Das verlorene Land
dreistöckiges Gebäude. Die oberen Etagen waren lediglich mit verrosteten Eisenplatten verkleidet, die mit riesigen verblichenen Plastiksternen verziert waren. Sie verstärkten nur den traurigen Anblick der Umgebung. Aronson erschauerte und verschränkte die Arme, um sich vor dem Wind zu schützen, der nun Papierfetzen, Plastikteile und verwelkte Blätter die Straße entlangwehte.
»Glauben Sie, dass die Bande, die wir uns in Crockett vorgeknöpft haben, auch für das hier verantwortlich ist?«,
fragte er. Wenn man über den grimmigen Unterton hinwegsah, schwang eine vage Hoffnung bei ihm mit.
»Ich fürchte nein«, sagte Miguel, der nur ungern eine weitere unschöne Wahrheit aussprach. »Das hier … passt einfach nicht. Die Road Agents in Crockett wollten eure Frauen als Sklavinnen haben, sie ließen sie am Leben. Hier wurden Frauen und Kinder ohne jeden Grund umgebracht, wenn man mal von dem Spaß am Töten absieht.«
»Ethnische Säuberung«, stellte Aronson düster fest.
Miguel kannte diesen Begriff nicht, aber er glaubte zu verstehen, was damit gemeint war.
»Wir sind hier mehr als sechzig Kilometer von Crockett entfernt«, sagte er. »Weiter ist diese Bande von Road Agents nicht gekommen, jedenfalls haben das die Frauen erzählt. Nein, ich glaube, das hier ist jemand anderes gewesen.«
Aronson schaute ihn unglücklich an.
»Aber das bedeutet, dass wir, wenn wir uns weiter nach Norden bewegen, den Leuten in die Arme laufen, die das hier getan haben.«
»Ja«, sagte Miguel. »Genau das.«
Der Regen wurde immer stärker und verursachte jetzt ein deutlich wahrnehmbares Geräusch, wie er auf das Metalldach des Fitnessclubs trommelte. Miguel verspürte plötzlich das Bedürfnis nach Tabak. Er hatte es aufgegeben, die billigen Zigarillos seiner Jugend zu rauchen, nachdem er an Bord der Yacht von Miss Julianne gekommen war. Wie lange war das jetzt her, drei oder vier Jahre? Es kam ihm vor, als sei ein ganzes Leben seitdem vergangen. An Bord hatte es einen Vorrat von sehr feinen Cohibas gegeben. Er erinnerte sich noch immer gern daran, wie er sie mit diesem großen freundlichen Gringo geraucht hatte, der sich selbst Rhinozeros genannt hatte. Aber auf halbem Weg über den Pazifik waren sie ihnen ausgegangen, und derartige Annehmlichkeiten hatte es im Flüchtlingslager natürlich nicht gegeben, und auch nicht auf der
Farm in Australien, wo sie arbeiten mussten. Und so hatte er gelernt, ohne Zigarillos auszukommen, und war ganz froh darüber gewesen. Er konnte seitdem viel freier atmen. Aber nun, wie er im Eingang dieses Gebäudes stand, das wie ein eisernes Grab mit Plastiksternen aussah, und sich die verdorbenen hässlichen Früchte an den Masten und Laternen anschaute, die im Wind hin und her pendelten, da spürte er wieder diesen Drang nach einem starken Tabak, den er anbrennen und inhalieren wollte, um damit die Beklemmung zu bekämpfen, die ihn beim Anblick dieser Hölle namens Palestine übermannte.
»Natürlich war das eine ethnische Säuberung«, sagte Aronson, »und das könnte bedeuten, dass wir in eine andere Situation kämen, denn diese Leute hier …«
Er hielt inne, weil ihm das Wort fehlte, die Sache neutral auszudrücken.
»… waren Bohnenfresser«, brachte Miguel seinen Gedankengang zu Ende. »Deshalb wurden sie umgebracht.«
Der Mormone verzog das Gesicht, nickte aber zustimmend.
»Sie haben ja Recht«, fügte Miguel hinzu. »Es könnte durchaus sein, dass sie ihre weißen Gefangenen anders behandeln. Aber die Männer in Crockett hätten Sie so oder so getötet, stimmt’s? Und am Ende haben wir doch alle die gleiche Hautfarbe.«
Er deutete auf die hin und her schwingenden, aufgeplatzten schwarzen Leichen, über die Fliegen und Larven krochen.
Der Regen machte es auch nicht besser. Die erste Leiche fiel mit einem dumpfen Aufprall auf den Boden, nachdem Miguel den Strick durchgeschnitten hatte, und zerplatzte auf dem Asphalt. Das bedeutete, dass sie losgehen und Besen, Schaufeln, Müllsäcke und Atemmasken besorgen mussten. Die Masken brachten nicht viel, aber die
Erkältungssalbe, die sie sich unter die Nase schmierten, schon.
»Ich hab das mal in einem Film gesehen«, sagte Aronson. »Fragen Sie mich nicht, in welchem.«
Miguel wollte das sowieso nicht wissen. Es interessierte ihn nicht, ob in dem Film Eingeweide und blutiges Fleisch auf der Straße verspritzt wurden. Mit jeder weiteren Schaufel, auf der er Leichenteile vom Straßenbelag aufsammelte, wurde das elende Gefühl in
Weitere Kostenlose Bücher