Das verlorene Land
bleiben. Wir können also ruhig warten. Abgesehen davon gibt es hier nicht genug Verkehr, um ihr unbemerkt zu folgen.«
Caitlin hörte, wie draußen zum Gebet gerufen wurde, was in dem kleinen Lada nur schwach zu vernehmen war. Hier und da sah sie Menschengruppen, die sich zusammenfanden, oder auch größere Ansammlungen, die sich auf dem Weg zu einem der lokalen Gebetsräume befanden. Als sie das letzte Mal hinter Baumer her gewesen war, hatte sie sich eingehend über die ethnische und religiöse Zusammensetzung von Neukölln informiert. Aber damals konnte sie sich noch wesentlich freier bewegen. Inzwischen hatte sich sehr viel geändert. Tausende neuer Bewohner waren hinzugekommen, vor allem Flüchtlinge aus Frankreich und aus den verwüsteten Ländern des Nahen Ostens. Es waren so viele, dass dieses ohnehin schon überbevölkerte Viertel aus allen Nähten platzte. Kaum denkbar, dass Fabia unter diesen Umständen ihre zwar kleine, aber kostbare Wohnung aufgab.
»Und warum fangen wir sie nicht einfach ab, wenn sie hier vorbeikommt?«, fragte Mirsaad.
»Es ist jetzt nicht der richtige Moment, Sadie. Erst mal muss ich wissen, ob sie wirklich noch hier wohnt. Dann
gehen wir zu dir nach Hause zurück. Dann danke ich dir und gebe dir weitere Instruktionen. Ich fürchte, dass ich heute Nacht dann ganz auf mich allein gestellt bin, wenn ich wieder herkomme.«
»Aber das ist doch Wahnsinn«, protestierte er und wandte sich ihr zu, was in der Enge des kleinen Wagens recht mühsam war. Außerdem musste er den Sicherheitsgurt lösen. »Du hast doch gesehen, wie es hier zugeht. Du kannst nicht einfach ohne männliche Begleitung herumlaufen. Das wird schlimm für dich ausgehen. Sehr schlimm.«
»Nicht für mich«, versicherte sie ihm, als gleichzeitig eine Bewegung am Rand ihres Blickfelds ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war Fabia in Begleitung einer Frau, die in einen unförmigen grauen Mantel gehüllt war, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. Sie wurde von einem Mann mittleren Alters begleitet, der eine Baseballmütze trug. Die drei beachteten den Lada nicht weiter, als sie, in eine Unterhaltung versunken, vorbeigingen. Caitlin hob eine Hand, um Mirsaad zum Schweigen zu bringen. Die Anwesenheit der beiden anderen konnte bedeuten, dass Fabia Shah jetzt womöglich Untermieter hatte oder dass jemand zu Besuch gekommen war. Das würde ihr Vorhaben erheblich erschweren. Es war ja nicht ungewöhnlich in dieser Gegend, dass größere Familien sich kleine Ein-oder Zwei-Zimmer-Wohnungen teilten. Aber nachdem sie fünfzig Meter gegangen waren, hielten die drei an und verabschiedeten sich voneinander. Der Mann und die Frau verschwanden in einem weiß gestrichenen Gebäude auf der linken Straßenseite. Fabia winkte ihnen hinterher und ging dann weiter mit dieser Körperhaltung, die Caitlin schon früher am Tag bei ihr bemerkt hatte. Es war der selbstsichere Gang einer Frau, die ihrer Umgebung deutlich zu verstehen gab, dass man sich besser nicht mit ihr anlegte.
Gut für dich, Fabia Shah, dachte Caitlin.
Mirsaad schaute ihr ebenfalls nach. Er war professionell genug, keinen Kommentar von sich zu geben, bevor die Frau ihr Haus am Ende der Straße erreicht hatte.
»Okay«, sagte Caitlin. »Das reicht fürs Erste. Jetzt bringen wir dich nach Hause.«
Er startete den Motor, fuhr an Fabias Haus vorbei und suchte nach einer Gelegenheit zu wenden, aber am Straßenrand parkten viele Autos im schrägen Winkel, und es war kein Platz dafür. Das gab Caitlin die Gelegenheit, das Haus ihrer Zielperson im Vorbeifahren genauer in Augenschein zu nehmen. Es war noch eines von diesen heruntergekommenen Gebäuden mit kleinen quadratischen Fenstern, von denen die Hälfte unbeleuchtet war.
Am Ende der Straße bog Mirsaad nach links ab und dann nochmal nach links, so dass sie Richtung Hermannstraße zurückfuhren, auf der sie direkt zu seiner Wohnung kamen. Nach einer Minute erreichten sie den Marktplatz mit den behelfsmäßigen Buden und Ständen, an dem sie am Morgen vorbeigekommen waren. Hier war immer noch sehr viel los, aber man sah, dass der Tag sich seinem Ende näherte. Tische wurden zusammengeklappt, volle Kartons weggetragen, Kleiderstapel eingepackt. Straßenhändler zogen Handwagen durch das chaotische Durcheinander, priesen ihre Waren an und versuchten noch ein paar Euro zu verdienen, bevor die Kunden ihre Einkäufe verstaut hatten und zum Abendgebet aufbrachen.
»Hör mal, Caitlin«, sagte Mirsaad mit bittendem Unterton. »Ich
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