Das verlorene Land
musste. Dabei sah sie eindeutig wie jemand aus, der nichts Gutes im Schilde führte.
Schließlich hatte sie die Schlösser geschafft und gelangte, nachdem sie die Tür vorsichtig geöffnet hatte, in die Wohnung. Ein kurzer, dunkler Flur lag vor ihr, direkt links ging die Tür ins Badezimmer ab. Dem warmen, nach Waschmittel riechenden Duft nach zu urteilen, befanden sich dort auch Waschmaschine und Wäschetrockner. Caitlin
wartete zwei Minuten ab, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Die Idee, ein Nachtsichtgerät zu tragen, hatte sie verworfen, weil dann die Gefahr bestanden hätte, dass sie geblendet wurde, wenn Fabia plötzlich das Licht einschaltete.
Es dauerte nicht lange, und im Dunkel hoben sich erste dunkelgraue Konturen ab. Zwei Fenster in einem Vorzimmer direkt vor ihr, die auf einen Innenhof gingen, waren zu sehen. Sie zog eine ihrer Maschinenpistolen aus dem Gurt und schob den gummierten, speziell für die Reflexunterdrückung vorgesehenen Schutzmantel über den Lauf. Dann legte sie den herausgezogenen Kolben gegen die Achsel und fühlte sich nun sicher genug, in den Hauptwohnbereich des Apartments einzudringen.
Zur Linken befand sich eine kleine Küche, direkt neben dem Badezimmer, und von dort konnte man in den offenen Wohnbereich schauen. Auf dieser Seite gab es keine Türen mehr, nur eine zur Rechten, die ins Schlafzimmer führte. Caitlin bewegte sich so vorsichtig voran, dass sie nicht die geringste Staubwolke aufgewirbelt hätte, wenn Staub da gewesen wäre. Sie atmete kontrolliert und bemühte sich ihre sinnliche Wahrnehmung in Einklang mit ihrem Atemrhythmus zu bringen, eine Technik, die sie sich beim Aikido-Training in Japan angeeignet hatte. Anstatt ihre Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt zu richten und die Welt um sie herum auszublenden, öffnete sie ihre Wahrnehmung allen fünf Sinnen und ließ die Reize ihrer Umgebung auf sich einströmen. Sie roch das Essen, das Fabia sich vor ein paar Stunden zubereitet hatte. Sie schmeckte die Gewürze, die sie benutzt hatte. Sie hörte die Uhr ticken und den Atem einer Frau. Sie spürte den dünnen, abgenutzten Teppich unter ihren Stiefeln. Sie bemerkte jedes Detail der spartanischen Möblierung der Wohnung und den leicht phosphoreszierenden Schimmer des TV-Bildschirms auf dem Sideboard, neben dem zahlreiche
gerahmte Fotos standen. Falls sie sich die Zeit nahm, um diese Bilder anzuschauen, würde sie auf einigen von ihnen garantiert das unschuldig lächelnde Gesicht jenes Mannes finden, der sie in Noisy-le-Sec vergewaltigt hatte.
Sie huschte weiter.
Sie streckte eine Hand aus und schob vorsichtig die Tür auf, bereit zu schießen, wenn es nötig wäre. Und schon umfing sie der Duft von Baumers Mutter. Gesichtscreme, ein herbes Parfüm, Seife. Vielleicht auch ein nach Apfel riechendes Shampoo. Der Atem der Frau veränderte sich nicht. Sie schnarchte leicht und knirschte mit den Zähnen, aber Caitlin war sich sicher, dass sie fest schlief.
Sie ließ den Lauf mit dem Schalldämpfer einmal durch den Raum schweifen, aber es gab keinen Platz, wo jemand sich hätte verstecken können. Fabia hatte gar keinen Platz für begehbare Schränke oder kleine Kammern, ihre wenigen Kleider lagen auf einem Holzregal, das an der Wand befestigt war.
Sie waren allein.
Caitlin nahm die Maschinenpistole herunter und zog eine kleine Einwegspritze aus der Jackentasche.
Sie nahm die Kappe ab, schnippte gegen den Kolben, um die Luftblasen zu entfernen, und drückte die Flüssigkeit in die Nadel. Vorsichtig durchquerte sie das Zimmer und hockte sich neben das Bett. Dann stach sie mit der Spritze ohne Vorwarnung in den Hals der Frau und drückte die Flüssigkeit hinein. Fabia schnarchte und stöhnte leise. Sie rollte sich von Caitlin weg und zwang sie mitzugehen, damit sie den Rest der Droge injizieren konnte.
Als der Kolben sich nicht mehr weiter herunterdrücken ließ, zog sie die Nadel heraus und wartete. Sie war mehr als erleichtert, dass Baumers Mutter nicht aufgewacht war. Ein paar Minuten würde es dauern, bis die Droge zu wirken begann. Caitlin verließ das Zimmer und suchte den
Rest der Wohnung ab und horchte an der Wohnungstür, ob sich im Treppenhaus etwas regte.
Nichts.
Sie ging wieder zurück ins Schlafzimmer, achtete jetzt nicht mehr so peinlich genau wie vorher darauf, jedes Geräusch zu vermeiden, und setzte sich auf die Matratze.
»Fabia«, sagte sie leichthin, nicht zu laut und mit einem freundlichen Unterton. »Fabia, wach doch
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