Das verlorene Land
würde ihn für immer verfolgen, erst recht, was er sich dazu ausmalte. Vor all diesen höllischen Visionen hob sich das Bild jener Frau ab, die er im Krankenhaus besucht hatte, der Frau, die er in den Kampf geschickt hatte und die als scheußlich verstümmelter Krüppel zurückgekehrt war und es für immer bleiben würde.
Der Präsident der Vereinigten Staaten ließ langsam seine Hand vom Gesicht herabfallen. Er wandte sich an Colonel Ralls, seinen militärischen Berater, der ganz ruhig neben ihm stand, so wie immer.
»Mike, können Sie mich nochmal mit General Franks verbinden?«, sagte er. »Eine Telefonverbindung genügt. Ich habe eine Entscheidung getroffen.«
40
Berlin
Caitlin folgte der Frau nicht sofort. Fabia Shah machte gerade Mittagspause und würde sicherlich nicht weit gehen. Sie verschwand etwa hundert Meter weiter um eine Ecke und hielt unterwegs nicht an, um mit irgendjemandem zu sprechen. Caitlin und Mirsaad beendeten ihre Mahlzeit mit zwei Tassen starkem türkischen Mokka und verließen dann das Lokal, um sich einige Stunden lang den Verpflichtungen des Journalisten zu widmen. Da sie Baumers Mutter genau da angetroffen hatte, wo sie es vermutet hatte, würde es Caitlin später am Tag nicht schwerfallen, sich an ihre Fersen zu heften.
In der Zwischenzeit war sie mit Mirsaad in Neukölln unterwegs. Caitlin spielte die ganze Zeit die gelehrige Volontärin, während sie von einem Termin zum nächsten fuhren. Er interviewte den Imam einer kleinen reformistischen Moschee, die eine chinesische christliche Kirche an der Werbellinstraße übernommen hatte, den Wohlfahrtsbeauftragten der Islamischen Föderation und die Direktorin einer Frauen-Hilfsorganisation, die eineinhalb Kilometer nördlich der Schariastadt ihren Sitz hatte.
Als der Tag sich dem Ende zuneigte, kehrten sie wieder in den Wohnblockbezirk von Neukölln zurück. Die zellenartig übereinandergeschachtelten Mietwohnungen in den vier- oder fünfstöckigen, grau verwaschenen Gebäuden erinnerten sie an eine Formulierung, die sie während ihrer Collegezeit irgendwo aufgeschnappt hatte: ästhetisch wertlose Mietkäfige. Caitlin überlegte eine Weile, wo sie diese
prägnante Formulierung wohl gelesen hatte. Immer wieder hatte sie Probleme, sich an bestimmte Dinge zu erinnern, seit man ihr einen Gehirntumor entfernt hatte. Sie wusste, dass die Beschreibung nicht auf diesen Wohnblock in Berlin gemünzt gewesen war, aber sie passte erstaunlich gut.
»Diese Frau, nach der du suchst …«
»Ich suche nicht nach ihr, Sadie, wir haben sie ja schon gefunden. Ich wollte nur herausfinden, ob sie noch hier in Neukölln ist. Kannst du da drüben in die Mahlower Straße einbiegen? Das ist die nächste Querstraße rechts.«
Sie fuhren über eine große Kreuzung an der Hermannstraße und bogen da ab, wohin sie gezeigt hatte. Die Mahlower Straße war relativ kurz, und es gab dort nur sechs Mietshäuser, drei auf jeder Seite. Caitlin bat Mirsaad, am Straßenrand zu parken.
»Diese Frau, die wir heute gesehen haben, steht die in irgendeiner Verbindung zu dem Anschlag auf dich und Bret?«
Caitlin schüttelte den Kopf. »Nein, nicht direkt. Aber sie kennt jemanden, der garantiert daran beteiligt war, und im Moment stellt sie die direkteste Verbindung zu ihm dar. Er kam hierher zurück, nachdem er aus dem Gefängnis entlassen wurde. Ich gehe jede Wette ein, dass sie ihn getroffen oder von ihm gehört hat. Das wäre ein Anfang, mehr nicht.«
»Ist sie seine Freundin?«, hakte er nach. »Solche Beziehungen werden hier nicht gern gesehen, weißt du.«
»Nein«, sagte Caitlin. »Sie ist seine Mutter.«
»Ah, ich verstehe.«
Mirsaad schien damit zufrieden zu sein. Im Grund war es ja auch nicht wesentlich anders, als wenn er nach einer Kontaktperson für eine Reportage suchte. Wenn man den gesuchten Menschen nicht fand, wandte man sich an sein persönliches Umfeld.
»Sollten wir dann nicht zum Café zurückgehen und sie verfolgen?«, fragte er.
Caitlin lächelte.
»Nein, ich habe ja ihre Adresse. Die ihrer Wohnung und die ihres Arbeitsplatzes. Das Büro ist jetzt woanders, aber sie ist immer noch dabei. Vor drei Jahren wohnte sie in einer Sozialwohnung am Ende der Straße. Nach meinen Informationen lebt sie immer noch da. Das macht ja Sinn, denn ihre Lebensumstände haben sich nicht geändert. Sie müsste eigentlich in ein paar Minuten hier vorbeikommen. Fabia ist zwar hart im Nehmen, aber selbst sie wird nicht nach Einbruch der Dunkelheit auf der Straße
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