Das verlorene Land
Caitlin saß da, rauchte und versuchte ihre Wut im Zaum zu halten. Sie hatten sie ohne klaren Auftrag hierhergeschickt und sich ausbedungen, ihre Anwesenheit jederzeit leugnen zu können. Und nun verlangten sie, dass sie stinknormale Informationen zusammensuchte, die auch ein Bürohengst aus der Botschaft sammeln konnte. Sie war so sauer, dass sie sich ermahnen musste, nicht unaufmerksam zu werden. Das Parkhaus war ziemlich leer und sah aus, als sei es schon seit geraumer Zeit nicht mehr benutzt worden. Überall lag Müll herum, und welke Blätter hatten sich angesammelt, schmutzige Wasserpfützen hatten sich direkt neben ihrem Wagen gebildet. Aber das musste ja nicht heißen, dass sie wirklich allein war.
Sie sah auf die Uhr. Bald Mitternacht. Zeit loszufahren. In London hätte sie sich darauf verlassen können, dass nach Beginn der Ausgangssperre keine normalen Passanten mehr unterwegs waren. Hier in Berlin ging es zwar im Vergleich zu früher recht ruhig zu, aber sie musste bei allen Menschen, denen sie begegnete, Vorsicht walten lassen.
In einem weiten Bogen näherte sie sich der Wohnung von Fabia Shah, fuhr am östlichen Rand des Flughafens entlang und erreichte die Mahlower Straße über eine mit
abgestorbenen Bäumen bestandene Allee, die am nordöstlichen Ausläufer von Tempelhof an einem Sportplatz entlangführte. Wie die meisten öffentlichen Flächen von Berlin war auch diese umgegraben worden und diente nun als Gemüsefeld, in dem Tomatenstauden und Maisstängel aus einem leichten Bodennebel herauswuchsen und einen Kontrast abgaben zu den blattlosen Ästen der Bäume, die während der Giftstürme des Jahres 2003 abgestorben waren.
Sie parkte den BMW unter einer Ulme, die noch ein paar Blätter behalten hatte, und stellte den Motor ab. Sie war wie tagsüber gekleidet, größtenteils in Schwarz, aber sie hatte das Kopftuch, das Mirsaad ihr geliehen hatte, abgelegt. Hier und da brannten einige Lichter, und das blaugrüne Flackern der Fernsehschirme war in einigen Fenstern zu erkennen. Angesichts der rund zweitausend Menschen, die in der unmittelbaren Umgebung von Fabia Shah wohnten, war es hier wirklich erstaunlich ruhig. Das ist bestimmt ganz im Sinne der Moralapostel, dachte sie.
Caitlin saß hinter den getönten Scheiben des X5 und wartete zehn Minuten. Unter dem Beifahrersitz lag griffbereit eine der russischen Maschinenpistolen. Einige erleuchtete Fenster erloschen, während sie auf ihrem Beobachtungsposten war. Schließlich schienen sogar die letzten Fernsehsüchtigen aufzugeben und ins Bett zu gehen. Kurz nach halb eins ging sie los, nachdem sie die Automatik und ihren Gegenpart in die Halfter am Gurt unter ihrer Lederjacke geschoben hatte. Außerdem holte sie noch eine Serie von Dietrichen aus dem kleinen Fach zwischen den Vordersitzen. Sie schaltete die Alarmanlage ein, trat auf den Rasenstreifen neben dem Gehweg und schloss die Tür hinter sich ganz leise. Weniger als eine Minute später trat sie durch die Vordertür des Wohnblocks, in dem Fabia Shah bereits seit vier Jahren wohnte, und noch eine Minute später hatte sie das Schloss des Briefkastens geknackt,
auf dem das handgeschriebene Schild mit dem Namen »Shah« klebte.
Eine Gasrechnung und der Prospekt eines Schuhgeschäfts, die beide an Baumers Mutter adressiert waren, lagen darin.
Caitlin horchte einige Sekunden lang auf die Geräusche im Haus, versuchte mit ihrem gut trainierten Gehör noch den kleinsten Echos in den kahlen Korridoren, den leeren Treppenhäusern und den verschlossenen Wohnungstüren nachzuspüren. Sie hörte das leise Weinen von zwei Babys und das Streitgespräch eines Paares. Irgendwo ertönten die Geräusche eines laufenden Fernsehers. Offenbar lief da die Wiederholung einer Star-Trek-Folge auf Deutsch, deren Titelmusik deutlich herauszuhören war. Aber niemand schien sich im Treppenhaus zu bewegen. Niemand lag auf der Lauer.
Sie huschte die Treppe hinauf, ohne gezogene Waffe, die sie aber jederzeit aus dem Gurt nehmen konnte. Im dritten Stock schlich sie durch den Korridor, bis sie vor der richtigen Tür angekommen war. Die Tür wurde von einem dicken Eisengitter gesichert, aber das Schloss war eine ziemlich primitive Angelegenheit, das konnte sie problemlos in eineinhalb Minuten knacken. Die Wohnungstür dahinter bestand aus billigem Holz, und für das Schloss brauchte sie nur halb so lange, aber es war dennoch eine problematische Sache, weil sie sich hinknien und mit Spanner, Hook und Halbdiamant hantieren
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