Das verlorene Land
Dalby und zog einen Schlüssel hervor, mit dem er eine Tür am anderen Ende des Raums öffnete. Draußen war es jetzt düsterer geworden, während sie im Keller gewesen waren. Es war schon dämmrig und der Himmel derart mit Regenwolken verhangen, dass man jenseits der Fenster kaum noch etwas erkennen konnte. Sommer in England, dachte sie deprimiert.
In der Mitte des Gastraums brannte im Kamin ein Holzfeuer und bemühte sich, etwas Gemütlichkeit zu verbreiten, aber die Glühbirnen, die von der Decke hingen, verströmten ein kaltes grelles Licht, das sich weißlich über alle Gegenstände legte. Caitlin folgte Dalby in den angrenzenden Raum, der offenbar früher einmal das Büro des Gastwirts gewesen war. Es war genauso spartanisch möbliert wie die übrigen Räume, aber immerhin hingen an den Wänden einige amateurhafte Ölgemälde, und eine Topfpflanze stand in einer Ecke, die Dalby mit Wasser besprühte, bevor er sich hinsetzte. Auf seinem Schreibtisch, auf dem ansonsten nichts Überflüssiges zu sehen war, standen drei gerahmte Bilder. Sie nahm an, dass es Fotos seiner Familie waren, konnte aber von ihrem Platz aus nichts darauf erkennen.
»Setzen Sie sich, setzen Sie sich. Das da ist der bequemste Platz«, sagte er und deutete auf einen ziemlich ramponiert aussehenden Ledersessel in der Ecke hinter ihr. Er stand neben einem grauen Metallregal, das größtenteils mit amtlich aussehenden Aktenordnern gefüllt war, aber auch einige Sachbücher waren darunter: »Das Erbe
des Dschihad«, »Bravo 2.0«, »Die Verschwundenen«. Auch zwei Romane waren darunter, eine zerlesene Ausgabe von »Großer Atlantik« und ein ungelesenes Buch, das wie ein Science-Fiction-Roman aussah mit dem Titel »Der Dienstag vor dem Ende«. Sie nahm an, dass es sich um einen SF-Roman handelte, weil auf dem Cover ein grüner Roboter zu sehen war. Offenbar saß sie gerade in Dalbys Lesesessel, überlegte sie. Es war tatsächlich, genau wie er gesagt hatte, ein bequemer Platz.
»Ich möchte mich für die unerfreulichen Angelegenheiten im Keller entschuldigen, Caitlin. Ich bin wohl ein- oder zweimal recht angespannt gewesen.«
»So was passiert halt – alte Söldnerregel«, sagte sie betont zurückhaltend.
»Wohl wahr. Und das bringt uns zu der Frage, welche Regeln wir nun bei der Bekämpfung von Mr. Baumer anwenden.«
Caitlin rutschte im Sessel hin und her. Der Name Baumer beunruhigte sie mehr, als sie zugeben wollte. Wieder musste sie an ihre Familie denken, ihren Mann und ihr Kind, und sie sah vor sich, wie sie auf dem Feld lagen … Was wäre geschehen, wenn sie nicht rechtzeitig gekommen wäre? Und wo war sie nun? Nicht bei ihnen, sondern hier …
Sie zwang sich, diese Gedankengänge zu beenden.
»Ich dachte, man hat ihn in irgendeinen Kerker in Guadeloupe geworfen, wo er den Gendarmen bei ihren Ermittlungen hilft.«
»In der Tat«, sagte Dalby und verzog den Mund auf eine Art, bei der man nicht erkennen konnte, ob es reumütig oder amüsiert gemeint war. »Laut unseren letzten Informationen hat er sich dort befunden. Aber das war vor einem Jahr, und ich fürchte, dass die Kommunikation zwischen Frankreich und seinen Übersee-Territorien auch nicht mehr so gut funktioniert. Ehrlich gesagt haben wir
Baumer nicht mehr als besonders wichtig eingestuft, nachdem wir keinen freien Zugang zu ihm hatten. Oder überhaupt irgendeinen Zugang, ohne dem französischen Geheimdienst vorher eine ganze Liste von Fragen beantworten zu müssen, der sie dann gleich an den militärischen Geheimdienst weitergegeben hätte, der sowieso alle geheimen französischen Operationen seit 2003 lenkt.«
»Also waren alle Bemühungen, was ihn betrifft, umsonst? Oder lag es einfach nur daran, dass wir gefragt haben und nicht das MI-6 oder Scotland Yard?«
»Könnte sein«, gab Dalby zu und machte eine zustimmende Handbewegung. »Wir sind im Élysée-Palast nicht besonders beliebt. Sind wir nie gewesen, was ja nur logisch ist, denke ich, wenn man unseren Auftrag betrachtet. Ehrlich gesagt wäre es mir lieber gewesen, wenn Echelon eine Privatorganisation geblieben wäre, deren Existenz geleugnet werden kann. Aber nach der Konferenz von Vancouver ist nun mal alles anders geworden. Ich glaube nicht, dass Ihr Mr. Kipper uns in dieser Hinsicht einen Gefallen getan hat.«
Caitlin beugte sich vor und legte die Hände auf die Knie und drückte die Ellbogen durch auf eine Art, wie es ihr Vater immer getan hatte, ohne dass es ihr bewusst war. Sie war mit Dalby einer
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