Das verlorene Land
solche Tiere vernichtet hat?«
Er hielt an, drehte sich um und hielt die Lampe nach unten, damit sie nicht geblendet wurde.
»Krokodile? Also Alligatoren, oder was?«
»Genau«, sagte sie und versuchte locker zu klingen.
»Keine Ahnung, Miss Julianne. Es gibt ja verschiedene Vermutungen. Vor allem hat es Menschen und höhere Primaten erwischt. Schimpansen und andere Affen. Außerdem ist die Hälfte aller Wirbeltiere umgekommen. Aber man kann nicht genau sagen, welche Arten es getroffen hat und welche nicht.«
»Ist ja auch egal«, sagte sie und kam sich ziemlich dämlich vor.
Rhino grinste verschlagen.
»Sind Alligatoren Wirbeltiere, oder fressen sie bloß welche? Hm? Was meinen Sie, Miss Julianne?«
»Halt’s Maul und geh weiter«, schimpfte sie und machte eine entsprechende Handbewegung.
Rhino lachte vor sich hin und wandte sich um. Weiter ging’s durch das schmutzige Wasser. In der Ferne hörte man das Grollen explodierender Bomben und das Donnern der Kanonen, das durch die verlassene Stadt hallte, aber hier, in ihrer Betonschlucht, in die der kalte schmierige Regen fiel, klang das alles gedämpft und sehr weit weg. Julianne trat nach einer Ratte, die über ihre Stiefel kroch, und kickte sie in einen Kleiderstapel, der noch immer darauf wartete, ausgeliefert zu werden. Die Sachen
lagen unter einer Plastikfolie, und sie fragte sich, ob man da nicht vielleicht noch was Tragbares finden könnte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Die Kleider waren garantiert längst von Motten und anderen Insekten zerfressen.
Nachdem sie sich an einer Stelle, wo zwei Häuserfronten sich fast berührten, durch einen engen Durchgang gequetscht hatten, gelangten sie zum hinteren Teil eines zweistöckigen Ladens, der von zwei größeren Gebäuden eingerahmt wurde. Die Tür wurde von einem großen, halbverrotteten Pappkarton aufgehalten. Rhino versuchte, das Ding aus dem Weg zu schieben, aber es fiel auseinander, sein Inhalt kullerte metallisch klappernd heraus, und irgendwelche Glasteile zerbrachen.
»Scheiße«, sagte er, kickte das Zeug beiseite und bahnte sich einen Weg. Als Jules ihm folgte, bemerkte sie, dass sie gerade auf den Überresten des Menschen gestanden hatte, der diese Kiste getragen hatte, und verspürte den absurden Reflex, sich zu entschuldigen. Sie eilte weiter, hinter dem Lichtkegel von Rhinos Lampe her, und versuchte zu erkennen, was für eine Art Laden das hier gewesen war. Es sah nach einem ziemlichen Mischmasch aus. Klamotten, Krempel, schräg aussehende, offenbar teure Kunstobjekte. Die Regale waren voll davon.
Auf der anderen Seite lag die Spring Street, die ihrem Namen alle Ehre machte, denn sie hatte sich wieder in einen kleinen Fluss verwandelt. Jedenfalls floss hier ungefähr dreißig Zentimeter tiefes bräunliches Wasser vorbei, platschte gegen die Vordertür des Ladens und drang darunter durch. Das Wasser schien Rhino nicht weiter zu beunruhigen, er war vielmehr damit beschäftigt herauszufinden, ob jemand sie bemerken würde, wenn sie aus dem schützenden Raum hinaustraten.
»Wäre es nicht am besten, wenn wir direkt über die Straße auf die andere Seite gingen?«, schlug Julianne
vor. »Dort kommen wir gut geschützt bis zum Ende der Straße.«
»Das habe ich mir auch gerade überlegt«, sagte Rhino. »Ich wollte nur sichergehen, ob wir gefahrlos durchs Wasser kommen.«
Er drehte sich um und grinste sie an.
»Nicht dass irgendwelche Alligatoren nach uns schnappen.«
19
Salisbury Plain, England
Richardsons Widerstand brach kurz nach vier Uhr nachmittags. Er hielt viel länger durch, als Caitlin erwartet hatte, aber sie hatte schon ganz andere Leute beim Widerstand gegen die Folter scheitern sehen. Einige von diesen Männern hatte sie selbst gebrochen und dazu nicht mehr gebraucht als eine mit Schweineblut beschmierte Damenbinde. Jeder hatte eine Schwäche oder tief liegende Ängste, die hervorbrachen, wenn man genug Zeit hatte. Wenn es schnell gehen musste, dann musste ein gewisser Druck ausgeübt werden, aber in kontrollierten Dosen. Früher oder später gab jeder nach. Das Erstaunliche an Richardson war, dass er so lange durchgehalten hatte. Der Grund war nicht etwa, wie Dalby erklärte, dass er ein besonderes Pflichtbewusstsein oder Ehrgefühl besessen hätte.
»Ich vermute, er hat eine unglaubliche Angst«, sagte er. »Aber nicht vor uns.«
»Jedenfalls nicht zu Anfang«, korrigierte Caitlin.
Dalby schien ihrem Kommentar mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als es angebracht
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