Das verlorene Observatorium
Wachsbüste von Anna gestohlen. Sie war am Festtag der heiligen Lucia aus meinem Zimmer verschwunden. Ich vermutete, daß es Mutter gewesen war, die sie mißbilligend entsorgt hatte. Falls sie es war, sie erwähnte es jedenfalls nie und ich hatte zuviel Angst vor ihr, um die Rückgabe zu erbitten. Ohne die Büste vergaß ich Annas Gesicht. Oder ich erinnerte mich nicht mehr richtig daran. Manchmal machte ich abendliche Spaziergänge durch die Stadt, überquerte die Straßen, welche das Observatorium einfassten, dachte an Anna, versuchte, mich an sie zu erinnern, sog den Duft eines jeden Rauchers ein, der vorbeiging.
An einem dieser Abende, es war vielleicht ein wenig später als gewöhnlich und ich befand mich gerade irgendwo zwischen Tearsham Park Gardens und Tearsham Church, bemerkte ich, daß noch jemand in der Nähe war, sehr dicht hinter mir, und zischte. Ich drehte mich um und erwartete, den Pförtner zu sehen. Aber es war ein junger Mann mit pockennarbigem Gesicht. Er trug einen Trainingsanzug und besprühte die Wände der Stadt mit einer Farbsprühdose. Die mit hohem Druck herausgesprühten Wörter schienen auf den Wanden zu zischen oder zu flüstern. Es waren folgende Worte:
Für die zarteste Haut. Die weißesten Zähne, den frischesten Atem.
Und sogar Du kannst Liebe finden.
Dreh die Uhren zurück, verabschiede dich von deinen Falten. Denn du bist es dir wert.
Endlich hatte ich den Mann gefunden, der seine Zeichen in der ganzen Stadt hinterlassen hatte, nachts die Wände besprühte, seine Botschaften verbreitete, damit sie am Morgen jeder lesen konnte. Ich sehnte mich sehr nach Gesellschaft, aber er brauchte eine ganze Weile, bis er zu mir Vertrauen fasste. Er stotterte ganz fürchterlich. Er hieß, soweit ich ihn verstehen konnte, Mark Daniel Cooper, und er verbrachte oft die Nächte mit seinen Sprühdosen. Auch die Arbeit an den Wänden des Observatoriums, gab er zu, stammte von ihm. Er sagte, es fiele ihm so schwer, mit Menschen zu reden, daß die Menschen ihn lieber in Ruhe ließen. Um daran etwas zu ändern, schrieb er zunächst seine Gefühle in Notizbücher. Aber ganz oft, sagte er -mehr durch Gesten als mit Worten -, war er so wütend, daß auch seine Buchstaben zornig wurden, und zornige Buchstaben, sagte er, gestikulierte er, sind riesengroß und füllten seine Notizbücher viel zu schnell. Aber kein Mensch las diese Notizbücher, nachdem er sie vollgeschrieben hatte, sie lagen einfach nur nutzlos herum. Irgendwann sah er dann Graffiti auf den Mauern eines Schulhofs, und mit einem Mal wußte er, was er zu tun hatte. Er war so glücklich dabei, seine geheimsten Gedanken über die Stadt zu sprühen, daß all sein Schmerz verflog. Danach war er selbstbewußter, und schon bald gingen ihm die Dinge aus, die er zu sagen hatte. Aber er konnte nicht mehr aufhören, Graffiti auf die Wände der Stadt zu sprühen, denn dies war das einzige, was ihm das Gefühl gab, lebendig zu sein. Mit der Zeit fing er an, die überall anzutreffenden Werbebotschaften zu vollständigen Sätzen auszuformulieren. Sie käme so selbstbewußt daher, diese Werbung, sagte er. Nichts anderes auf der Welt wäre so selbstbewußt. Er sagte, die allgegenwärtigen Coca-Cola-Reklamen, die es in der Stadt gab, soweit er zurückdenken konnte, verliehen uns einen Wert. Wenn die Firma Coca-Cola glücklich war, hierzusein, dann hatte sie Vertrauen in uns, und dann sollten auch wir Vertrauen in uns haben. Würden die Coca-Cola-Schilder entfernt, wären wir wertlos. Mit ihnen gehörten wir wirklich und wahrhaftig zur Welt. Indem er die selbstbewussten Worte der Werbung kopierte, spürte er, wie ihr Selbstbewusstsein auf ihn abfärbte. Das alles erzählte er mir lächelnd mit seinen abgehackten Worten und schrieb:
Enjoy the taste.
Er borgte mir eine seiner Dosen, damit ich dieses eine Wort auf die Ziegel schreiben konnte:
Anna.
Nein, nein, sagte er, gestikulierte er, ich hätte das Wort viel zu klein gemacht, und so besprühte er eine ganze Straße mit großen fetten Annas. Anna-Straße nannten wir sie.
Als er entschied, es sei für ihn an der Zeit zu gehen, da sprühte er ein Lebewohl auf die Wand, lächelte mich nervös an, ohne mir direkt in die Augen zu sehen und stürmte in den frühen Morgen davon, bevor es zu hell wurde.
Anna beobachten
Natürlich wurden sie mit der Zeit nachlässig. Ihre Liebe zu und ihr Interesse an der blinden Puppe begannen zu schwinden. Mutter hatte einen Schlüssel zu Annas Wohnung, den sie bisweilen
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