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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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versehentlich nachts neben dem laufenden Diktiergerät liegenließ. Also verließ ich manchmal, wenn alle schliefen, Wohnung Nummer 6 und stieg, Mutters Schlüssel in der Hand, die Treppe hinauf zu Annas Wohnung. Ich ging in Annas Schlafzimmer und beobachtete sie beim Schlafen, sah sie lange an. Ich entdeckte neue, hellere Sommersprossen, die ich zuvor nicht gesehen hatte. Ich hätte sie gern berührt, tat es aber nie. Annas geschlossene Augen (was passierte unter diesen Lidern?), Annas Nase, Annas kleine Ohren. Ich stellte mir ihren ganzen, unter dem Laken verborgenen Körper vor. Annas versteckte Arme und Beine, Annas versteckter Bauch, Annas versteckte Brüste. Doch bevor sie aufwachte, stahl ich mich wieder hinaus.
    Tagsüber, wenn ich sie nicht sehen durfte, wenn ich nicht einmal vor ihrer Wohnungstür warten durfte, mußte ich mir eine andere Beschäftigung suchen. Von Zeit zu Zeit kehrte ich zu meinem Sockel zurück, doch es gelang mir nicht, mich zu konzentrieren. Ich verbrachte viele Stunden bei meiner Ausstellung, betrachtete diejenigen Objekte, die Anna auch betrachtet hatte, redete mit dem kostbarsten aller Gegenstände, Das Objekt, ganz am Ende der Ausstellung, ein Gegenstand, den Anna nie erreichte, den sie nie mehr sehen würde.
Ein Besuch in Mr Behrens'Handschuhgeschäft
    Wenn sie niedergeschlagen sind und ein bißchen Aufmunterung benötigen, gehen viele Menschen einkaufen. Manche kaufen Kleidung, andere etwas zu essen. Wenn ich mich trösten mußte, kaufte ich Handschuhe, weiße Baumwollhandschuhe in Mr. Behrens' Handschuhgeschäft. Mr. Behrens war ein winziger Mann, der ebenfalls Handschuhe trug, gleichwohl seine aus Leder und schwarz waren. Er trug die Handschuhe, um seine Hände zu verstecken, die in einem Krieg verbrannt worden waren, über den er nie sprach. Mr. Behrens' Handschuhgeschäft war auf alle möglichen Typen von Handschuhträgern ausgerichtet, er verkaufte Handschuhe in allen Farben, er verkaufte Handschuhe aus Wolle, Baumwolle, Gummi, Leder, Fuchsleder, Kalbsleder, Ziegenleder, Moleskin, Draht. Ich war sein bester Kunde. Ich kam schon vor vielen Jahren zu ihm und kaufte jedesmal gleich mehrere Paar Handschuhe. Die meisten seiner Kunden, sagte Mr. Behrens, achteten darauf, daß ihre Handschuhe Jahre halten, bisweilen sogar Jahrzehnte. Aber Sie, Francis, sagte er, Sie sind stets loyal, schauen fast regelmäßig herein und kaufen immer, und das en gros, die gleichen traditionellen weißen Baumwollhandschuhe, in Schachteln verpackt und in Seidenpapier eingeschlagen.
    An diesem Tag, es war einige Monate vor dem Tag, an dem mein Einkauf erforderlich gewesen wäre, verließ ich Mr. Behrens und sein Handschuhgeschäft mit zehn neuen Paaren, zehn neuen, ordentlich gestapelten Membranen, die friedlich auf den Tag warteten, an dem ich sie ins Leben rufen würde, an dem die Finger agieren und schüchtern die Welt kennenlernen würden.
Das Weihnachtsgeschenk
    Schon bald fühlte sich Anna sicherer und durfte in Begleitung Spazierengehen. Manchmal ging sie mit Mutter, andere Male durfte sie mit mir gehen. Sie ging niemals mit Miss Higg. Claire Higg hielt nichts von Orten im Freien. Annas Augen hatten begonnen, sich vollständig zu trüben, nichts mehr in ihnen verriet, daß sie jemals gesehen hatten. Ihre Iris, die Pupillen, waren inzwischen milchigweiß und hart. Wenn sie sich nicht bewegte, erinnerte sie an eine Wachsfigur, der man vergessen hatte, die Augen aufzumalen. Immer wieder berührte sie ihre weißen Augen, drückte sie, rieb an ihnen. Ich fragte, ob sie noch wisse, wie die meisten Dinge aussahen. Ja, sagte sie, aus der Erinnerung und durch Berührung. Anna sagte zu mir:
    Bitte, laß mich deine Hände berühren, dann bin ich glücklich.
    Es war Weihnachten. An Weihnachten packen Leute Dinge in Papier ein. Anna Tap wollte meine Hände berühren, und da Weihnachtszeit war, würde dies mein Geschenk an sie sein. Ich würde meine Hände in Geschenkpapier einwickeln.
    In mein Kostüm gekleidet (das Kostüm, das ich trug, als ich noch im Wachsfigurenmuseum arbeitete), mit Schnallenschuhen, Strumpfhose, einem weißen Hemd und Rüschenmanschetten, einem langen Gehrock und einer Perücke mit langen Locken auf dem Kopf, betrat ich das Wachsfigurenmuseum durch den Seiteneingang mit dem Kombinationsschloß, den wir halb wächserne, halb fleischliche Puppen immer benutzt hatten. Reglos waren die Bewohner, still wie Wachs. Träumten sie? Bewegten sich Gedanken in ihrem wächsernen Inneren? Wurde man

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