Das verlorene Observatorium
und bis zum vierzehnten Dezember nicht wieder aufwachte. Für jene aber, die aufstehen und sich vor die Tür wagen mußten, war es einfach nur ein weiterer unangenehmer Wintertag, kalt und traurig.
Ich erinnerte mich sofort an meinen Plan, als ich aufwachte und den mutwillig zerstörten Wachskopf sah, mit tiefen Narben in seinem Wachsfleisch und offenen Löchern dort, wo einst die Augen waren. Sobald ich angezogen war, marschierte ich, weder schnell noch langsam, zur Tearsham Church - ich war von der Gerechtigkeit meines Plans überzeugt, und die Gerechtigkeit verlieh mir für meine Reise einen ruhigen, zuversichtlichen Schritt. Wenn mich an diesem besonderen Morgen jemand gesehen hätte, wie ich vom Observatorium zur Tearsham Church ging, hätte man mich bestimmt für einen Beamten gehalten, für jemanden, bei dem jeder einzelne Schritt die Rückendeckung von Gesetzen und Bestimmungen besaß. Einen solchen nüchterngeschäftsmäßigen Gang hatte ich. Wenn man mich gesehen hätte, dann hätte man mit Sicherheit darauf geachtet, mir aus dem Weg zu gehen, da man überzeugt gewesen wäre, daß der Weg, den ich nahm, mir allein gehörte und andere dort eigentlich nichts zu suchen hatten. Allerdings kann ich mich nicht erinnern, auf meinem Weg zur Kirche jemandem begegnet zu sein. Es ist durchaus denkbar, daß ich an anderen Menschen vorbeigekommen bin oder Leute mir aus dem Weg gegangen sind, sie hinterließen jedoch bei mir keinen bleibenden Eindruck; meine Gedanken waren viel zu sehr mit den hölzernen Augen der heiligen Lucia beschäftigt.
Als ich die Kirche betrat, sah ich sofort, daß der Staub erst kürzlich aufgewirbelt worden war. Aber ich sagte mir, daß wahrscheinlich ich selbst es gewesen war, als ich die Kirchentür öffnete. Denn es war niemand in der Kirche zu sehen. Nur einmal, als ich auf das hölzerne Altarbild zutrat, meinte ich, ein leises Zischen zu vernehmen.
Die Heiligen selbst standen genau, wie sie schon immer gestanden hatten, ihre würdigen Posen machten mir Mut und beruhigten mich. Es war eine unkomplizierte Aufgabe, die ich zu erledigen hatte: Ich musste einfach die hölzernen Augen von der Schale der heiligen Lucia nehmen und dann verschwinden. Ich würde den Frieden der Kirche nicht länger stören als unbedingt nötig. Aber ich hatte, daran muß ich erinnern, das Recht hierzusein, ich hatte ein Anrecht auf diese Augen. Meine Augen, die Glasaugen in dem Wachskopf, waren zerstört worden - da war es nur fair, daß die hölzernen Augen mir gehören sollten. Zum Ausgleich. Das konnte die Kirche doch sicher verstehen.
Die heilige Lucia stand wie gewohnt neben ihren heiligen Kollegen, Märtyrern sowie der Jungfrau und dem Kind. Ihre rechte Hand hielt, wie nicht anders zu erwarten, eine hölzerne Schale. Die Schale jedoch war, entgegen allen Erwartungen, leer. Man konnte Spuren sehen, wo einmal etwas angeleimt gewesen war, aber zwei Holzaugen waren nicht da.
Natürlich hätte mich die Ungerechtigkeit dieser Situation laut aufschreien lassen sollen. Hätte mich vielleicht davon überzeugen müssen, die hölzerne Frau an ihren goldenen Haaren aus der Kirche zu schleifen und sie auseinanderzunehmen, sie an einer Wand zu zerschlagen. Doch kaum hatte ich den Mund geöffnet, um meiner Enttäuschung Ausdruck zu verleihen, da bemerkte ich auf einer der Bänke liegend den Körper einer jungen Frau, gehüllt in ein blaues Kleid und einen schwarzen Mantel. Die ruhig atmende Anna Tap. Mit geballten Fäusten, in denen sich gewiß mein Augenschatz befand, einer in jeder Hand. Ich schob mich ruhig durch die Bank, bis ich neben ihr stand. Ich hockte mich nieder, bis sich mein Kopf auf einer Höhe mit ihren Händen befand. Ihre Hände waren schmutzig, staubverschmiert. Ich streifte die Lederhandschuhe meines Vaters über meine weiße Baumwollhaut und begann, Annas rechte Hand zu öffnen. Die Faust aber blieb unnachgiebig. Ich zerrte fester an ihren Fingern. Sie öffnete die Augen, häßliche, wunde Augen, Kugeln, die vor Schmerz schimmerten, mit geröteten Lidern vom Reiben. Wie weh tat es, Anna Tap? Hast du geweint? Hast du geschrien?
Wahrend ich sie bearbeitete, mit meiner Entschädigungsaktion beschäftigt war, starrte sie mich weiter an. Und ich war mir gar nicht sicher, ob diese schrecklichen Augen überhaupt irgend etwas sahen. Sie sagte leise:
Warum werden die hölzernen Augen nicht weich, Francis?
Ich setzte meine Arbeit an ihren Fingern fort.
Wenn meine Augen hart werden, warum werden dann die
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