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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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hölzernen Augen nicht weich?
    Es wird nicht lange dauern.
    Sie sollten weich sein.
    Gib sie mir, und ich bin sofort weg.
    Ich kann den Schmerz nicht abstellen.
    Nimm eine Pille.
    Ich habe schon eine genommen.
    Dann wirst du dich bald besser fühlen.
    Ich habe mich übergeben.
    Dann nimm noch eine Pille.
    Ich wußte nicht, daß es so weh tun würde. Mir ist schlecht davon geworden.
    Nimm noch eine Pille.
    Sie sind in meiner Tasche.
    Ich griff in ihre Manteltasche und fand eine Tablette. Dann bat ich sie, die Hand zu öffnen, damit ich ihr die Tablette geben konnte, aber statt dessen richtete sie sich auf und öffnete den Mund. Ich ließ sie fallen, die Pille fiel von meiner Hand in ihren Mund. Meine Hände berührten ihre Lippen nicht. Sie schluckte und zuckte zusammen.
    Die hölzernen Augen gehören mir, Anna.
    Sie funktionieren nicht.
    Du hast meine Augen kaputtgemacht, also muß ich diese haben. Sie funktionieren nicht, Francis. Sie sind nutzlos. Bitte, gib sie mir.
    Dann lächelte Anna, es war ein liebloses Lächeln mit dem einzigen Zweck, daß ich mir dumm und unbeholfen vorkam. Was mich aber nur wütend machte und mich fast aus der Kirche hätte stürmen lassen, wäre da nicht die Tatsache gewesen, daß sie immer noch meine hölzernen Augen umklammerte.
    Warum hast du von mir eine Wachsbüste anfertigen lassen, Francis?
    Die Augen, bitte.
    Wußtest du nicht, daß du auch das Original anfassen kannst?
    Die Augen, bitte.
    Ich hätte dich gelassen.
    Die Augen, sofort!
    Ist es dir peinlich, daß ich es herausgefunden habe? Armer kleiner Junge.
    Ich denke, ich sollte jetzt besser gehen.
    Dann hörte Anna auf zu lachen und fing an zu weinen. Sie rieb sich mit den Fausten die Augen, drückte sie beinahe ein. Und nachdem sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte, konstatierte sie einfach und ohne einen Hauch von Zweifel:
    Ich werde blind.
    Und dann sagte sie es wieder:
    Ich werde blind.
    Und seufzte.
    Und mit einem Mal waren die hölzernen Augen überhaupt nicht mehr wichtig, plötzlich begriff ich, was ich tun mußte, solange ich noch Gelegenheit dazu hatte: Ich mußte Anna hinunter in den Tunnel führen und ihr die Ausstellung zeigen. Sie mußte alles sehen, mußte alles sehen, bevor sie erblindete, vom ersten bis zum allerletzten Stück: Das Objekt Ich hatte nie beabsichtigt, jemandem die Ausstellung zu zeigen, aber in diesem Augenblick war ich davon überzeugt, daß ich es tun mußte, daß es das Wichtigste war, was ich jemals tun würde. (Vielleicht lag dies daran, daß Anna mir leid tat, weil sie so unter ihrer Augenkrankheit litt. Das will ich nicht ausschließen. Ich bin durchaus fähig, Mitleid zu empfinden, und vielleicht ist mein Mitleid sogar in der Lage, zumindest vorübergehend mein Handeln zu bestimmen. Das kann sein. Zum damaligen Zeitpunkt jedoch meinte ich, daß etwas völlig anderes mich antrieb, meine Ausstellung zu öffnen, wenn auch nur für begrenzte Zeit und für ein sehr begrenztes Publikum.)
    Sie willigte ein, mich zu begleiten. Zunächst lächelte sie und sagte: Nicht jetzt. Doch dann ging sie in sich und sagte, dass sie natürlich sofort mitkäme, wenn ich es wollte und dass jetzt vielleicht genau der richtige Moment sei. Aber du darfst die Augen nicht aufmachen, du mußt sie geschlossen halten, andernfalls werde ich dir gar nichts zeigen. Du mußt alles in der richtigen Reihenfolge sehen, in der es gesehen werden soll. Wenn du die Augen aufmachst, bevor es soweit ist, müssen wir sofort wieder gehen. Ich zog Annas Mantel über ihren Kopf. Was kannst du sehen, fragte ich. Und sie sagte: Nichts, ich kann überhaupt nichts sehen. Gut, sagte ich, dann laß dich von mir führen.
    Immer noch die Lederhandschuhe tragend, zog ich sie am Handgelenk vorwärts und gab ihr Anweisungen. Ich schloss das Tor zur Kapelle der Ormes auf. Dann schob ich den Deckel des Grabmals zur Seite, und wir stiegen langsam zur Ausstellung hinunter. Achte darauf, nicht zu schnell zu gehen, sagte ich, dir wird doch nicht wieder schlecht, oder? Sie sagte, sie könne nichts sehen. Das ist schon in Ordnung, sagte ich, du wirst, sobald wir den Anfang erreicht haben. Halte dich immer rechts. Als wir den anderen Eingang im Keller des Observatoriums erreichten, zündete ich eine Kerze an.
    Dies ist meine Ausstellung, sagte ich. Ich habe sie noch nie zuvor jemandem gezeigt. Mach jetzt die Augen auf. Bitte, sieh her. Ich gab ihr das Ausstellungsbuch und wies sie an, meine Eintragungen zu jedem Ausstellungsstück zu lesen. Ich

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