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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Boden kriechen konnte.
    Einige Zeit später spürte ich die Stufen des Tunnels und schob den Deckel des Grabmals beiseite. Das Licht stach mir in die Augen. Das erste, was ich dann sah, waren meine verratenen Hände, hässlich und verschämt. Meine Nägel bluteten, winzige Fetzen ausgefranster Haut hingen von den handschuhlosen Fingern, und die behandschuhten Finger hatten ausnahmslos rote Spitzen. Mit baumelnden Beinen saß ich dort, halb in der Kirche, halb im Tunnel, keuchte und weinte und schaute in die Dunkelheit zurück. In der Ferne, gerade noch vom Licht berührt, sah ich ein trauriges Stilleben. Unordentlich, vernachlässigt lagen dort einige, viel zu wenige Stücke meiner Ausstellung, zertrümmert und zerbrochen.
    Gerade noch konnte ich das abgerundete obere Ende meines letzten Ausstellungsstücks sehen, Position 996, das kostbarste aller Ausstellungsstücke. Der Gegenstand, für den die Ausstellung überhaupt angelegt wurde. Das stets an einen neuen Platz wandernde Exponat, das immer an jener Stelle platziert werden musste, die am weitesten vom Anfang entfernt war, immer wie die jüngste Neuerwerbung erscheinen musste. Ich rutschte wieder hinunter ins Halbdunkel.
    In diesem Tunnel wurde das Leben und die Liebe so vieler Menschen gezeigt. Vater war dort und Zwanzig und Claire Higg und der arme Peter Bugg und auch Emma, und sogar Anna Tap. Aber vor allem anderen wurde dort eine so bedeutende und wichtige Person aufbewahrt, dass mir seine Liebe wichtiger war als alle anderen ausgestellten Menschen: Position 996, ein Skelett.
    Ich hob dieses Ausstellungsstück auf, das sich in drei transparenten Beuteln befand. Ich tastete die Plastikhäute ab. Für einen Moment meinte ich im Dämmerlicht, er sei lebendig. Ich meinte, auf seinem Schädel Fleisch wachsen zu sehen, Augen in seine Augenhöhlen treten und einen großen, immerzu lächelnden Mund zu sehen. Ich meinte, ich sähe seinen Atem an der Innenseite des Plastikbeutels, doch dann verblasste das Leben wieder, und nur der Kopf lächelte weiter, das Lächeln eines Totenkopfs. Die abgerundete Oberseite des Schädels war blank poliert, sie schimmerte in der Dunkelheit. Ich hatte mich immer sehr darum gekümmert, er hatte eine solch wunderbare Rundung. Ich küsste sie. Dann studierte ich den Beutel, in dem sich die Hände des heißgeliebten Ausstellungsstücks befanden. Ich brachte die Beutel hinauf in die Kirche und legte sie auf den kalten Steinboden. Ich schüttete einen Beutel aus, sortierte die Knochen. Handwurzelknochen und Mittelhandknochen und auch Fingerglieder. Was für winzige Hände es doch waren. Sie hatten angefasst, sie hatten gesammelt, sie waren Handfläche an Handfläche zum Gebet zusammengelegt worden, sie hielten Dinge, auch andere Hände. Bruderhände in meinen Händen, Bruderschädel an meinem Schädel. Bruder Francis neben seinem jüngeren Bruder Thomas. Mein älterer Bruder. Bruderausstellungsstück vor allen anderen Ausstellungsstücken, das Ausstellungsstück, für das ich geliebt, aber niemals gemocht werden sollte.
    Ich schob den Deckel zurück, der erst wenige Monate zuvor für Vater entfernt worden war und als das Grabmal halb geöffnet war, legte ich die Überreste meines Bruders auf den Sarg meines Vaters, dorthin zurück, woher ich sie genommen hatte. Zumindest ein Gegenstand wurde zurückgegeben, wenigstens soviel konnte ich tun. Konnte Vater Gesellschaft geben. Konnte ihn daran erinnern, dass er einmal zwei Söhne gehabt hatte, egal wie sehr er auch immer versuchte, den Porträts zuliebe zu glauben, dass ich sein ältester Sohn war. Die Knochen kehrten nach Hause zurück, jeder Splitter, jedes angeschlagene Fragment meines kleinen Bruders, der älter war als ich. Zurück in sein steinernes Bett, Stück für Stück. Am Schluss der Schädel, den ich vorher noch ein letztes Mal polierte.
    Francis, Francis?
    Jemand rief.
    Francis? Francis?
    Ich bin hier, Anna.
    Du hast es verpasst. Wie konntest du es verpassen? Es ist eingestürzt, Francis. Deiner Mutter zufolge, wie ein einst mächtiger Elefant, dessen Knie nachgeben, bevor er ächzend hinfällt. Man sagt, es sei ein großartiger Anblick gewesen. Du hättest bleiben sollen. Ich habe dich gerufen. Es gab mehrere gewaltige Explosionen. Du hättest sie eigentlich hören müssen.
    Die Menschen haben gejubelt, als es einstürzte. Sie haben photographiert und gejubelt. Es sind immer noch viele da, sie sind zu den Trümmern gegangen, spielen auf dem, was von unserem Haus noch übrig ist.

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