Das verlorene Observatorium
häufig auf Bürgersteigen findet. Nachdem ich dieses erste Paßphoto gefunden hatte, suchten meine Augen auf dem Weg zum Wachsfigurenmuseum stets die Bürgersteige der Stadt nach Paßphotos ab. Aber nach drei Monaten hatte ich erst ein einziges weiteres Paßphoto gefunden, ein weiteres Gesicht, das ich betrachten konnte. Ich mußte also meine Taktik ändern. Es dauerte nicht lange, bis mir eine Lösung einfiel.
Ich änderte meinen Weg zur Arbeit und ging nun jeden Morgen an einem Passbildautomaten vorbei. Dort machte ich mir die Ungeduld des Menschen zunutze. Nachdem die Paßphotos aufgenommen sind, vergehen gut drei Minuten, bis man sie mitnehmen kann. Diese Zeitspanne dauert es, bis die Maschine im Inneren des Paßbildautomaten die Paßbilder entwickelt hat. In der heutigen Zeit halten recht viele Leute drei Minuten schon für eine Ewigkeit. Und an diesem Punkt setzte ich an. In unmittelbarer Nähe des Paßbildautomaten, an dem ich auf dem Weg zum Wachsfigurenmuseum vorbeikam, gab es mehrere Geschäfte, Geschäfte mit Schaufenstern, Schaufenster, mit denen sich jene drei Minuten vertreiben ließen, in der die Paßphotos entwickelt wurden. Häufig genug verbrachten Leute, die auf ihre Photos warteten und sich die Schaufenster ansahen, um die drei Minuten totzuschlagen, damit länger als drei Minuten. Wenn ich niemanden sah, der zum Ausgabeschacht des Paßbildautomaten ging, sobald ein Bogen mit Photos dort hineinfiel, schnappte ich mir die Photos (stets vorsichtig wegen der gerade trocknenden Chemikalien), nannte sie mein eigen und setzte schnell, für den Fall, daß ich gesehen wurde, meinen Weg zum Wachsfigurenmuseum fort. Ich wurde nur einmal erwischt und entschuldigte mich daraufhin überschwenglich bei dem Mann, dessen Paßphotos ich gestohlen hatte. Ich sagte zu ihm, Ich dachte, es wären meine, es kommt mir vor, als würde ich schon eine Ewigkeit darauf warten. Ich gab ihm die Photos zurück, und er nahm meine Entschuldigung an.
So wuchs meine Paßphotosammlung derart schnell an, daß ich an einem Punkt 126 verschiedene Paßphotos von Menschen besaß, denen ich nie begegnet war. Für 126 verschiedene Gesichter wurden 126 verschiedene Geschichten ausgedacht.
An dem Nachmittag im Park, als die neue Bewohnerin Zwanzig, die Hundedame, gezähmt hatte, erspähte ich ein weggeworfenes Paßphoto neben dem mir am nächsten stehenden Papierkorb. Es war ein junger Mann. Um die Dreißig. Schwarzes Haar, das dringend gekämmt werden mußte. Kantiges Gesicht, das eine Rasur brauchte. Jeanshemd, das gebügelt werden mußte. Ich bemühte mich, mir aufgrund seines Gesichts sein Leben vorzustellen. Ein weiteres menschliches Wesen, noch eines, das ich nie zuvor gesehen hatte. An was dachte er? War er glücklich? War er grausam? Machte er sich Sorgen? Je länger ich sein Gesicht anstarrte, desto weniger verstand ich ihn. Das ist nicht weiter ungewöhnlich, es passiert immer wieder, wenn ich einen Menschen entweder auf einem Photo oder in Wirklichkeit aufmerksam studiere: Auf den ersten Blick meine ich immer, ich könnte jemanden recht schnell durchschauen, so daß die spontanen Urteile, zu denen ich gelange, bestimmt zutreffen, aber je länger ich hinsehe, desto weniger verstehe ich und desto klarer wird mir, welch eine schwierige Kunst die Beurteilung eines Menschen ist.
Als ich von dem Paßphoto wiederaufschaute, sah ich, daß Zwanzig allein auf ihrem Stück Rasen lag. Die neue Bewohnerin war fort.
Vor der Kirche
Ich konnte sie nirgends im Park entdecken. Ich zog in Erwägung, umgehend ins Observatorium zurückzugehen, um Peter Bugg zu warnen, daß ich sie verloren hatte. Wenn aber die neue Bewohnerin bereits ins Observatorium zurückgekehrt war, war es ohnehin zu spät. Falls sie dies jedoch noch nicht getan hatte, dann mußte sie immer noch irgendwo in der Stadt sein, und Peter Bugg konnte seine Arbeit in Wohnung 18 ungestört fortsetzen. Ich hatte noch nicht lange gesucht, als mich eine Idee innehalten ließ. Die neue Bewohnerin rauchte ziemlich viel, bislang hatte man sie noch nicht ohne Zigarette im Mund oder in der Hand gesehen. Wenn Zigaretten aufgeraucht sind, entledigt man sich im allgemeinen der Kippe, sie wird achtlos dort auf den Boden geworfen, wo sich der Raucher gerade befindet. Also konnte ich der neuen Bewohnerin folgen, indem ich ihre Zigarettenkippen sammelte. Ich näherte mich Zwanzig, ohne ihr zu nahe zu kommen, um eine Kippe aufzuheben, die ganz sicher ihr gehört hatte (sorgfältig darauf achtend,
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