Das verlorene Observatorium
hielt mir ein Stück Lakritz hin, das ich offensichtlich essen sollte. Ich nahm es. Ich warf es auf den Boden, ich stampfte darauf, ich trat das verdammte schwarze Ding platt. Sie nahm ein weiteres Stück heraus, ließ es fallen und zermalmte es unter ihren Holzschuhen. Ich schrie. Emma schrie, genau so laut und genauso panisch. Ich schenkte ihr ein Jaulen, das einen in den Wahnsinn treiben konnte. Sie gab sich alle Mühe, auf dieselbe Weise zu antworten, aber ihrem Jaulen fehlte mein voller Klang. Ich hörte auf zu schreien und zu jaulen, denn in diesen Gesten lag wenig Hoffnung. Emma ahmte meine Geräusche nur nach und zeigte keine Angst vor Lärm. Wie auch immer, es war ohnehin niemand gekommen, um mich zu retten.
Emma sprach:
Frrrrr. Ffffrrrrrr.
Ich sah sie beleidigt an. Ich verstand. Falls ich das Kinderzimmer je verlassen wollte, dann nur, nachdem ich dieses Geräusch nachgemacht hatte: fffrrrrrr.
Ich lerne sprechen
Fffirrrrrr, sagte Emma.
Ffffff, versuchte Francis.
Rrmr.
Errrrr.
Rrrrr.
Rrrrr.
Ffrffrrrrrr.
Ffffff.
Rrrrr. Fffrrrr. rffrrr Ffffrrrr.
Aaaaaa.
Aaaaaah! (Den kannte ich.)
Ffrrrrraaaaa.
Ffffaaaa.
Ffffrrraaaa.
Fffrrrraaaa.
Fffffrrrraaannnn. Nnnn.
Nnnn.
Ffffrrrrraannn.
Fffrrrraaannn.
Ssssss.
Ssssss.
Fransss.
Franssss.
Iiiiiii, sssss.
Iiiiissss.
Fraanssiiissss.
Ffraaanssiiisss.
Francis.
Frarncissss.
Francis.
Frarncis ss.
Francis.
Francis.
(Pause.)
Francis. Francis. Francis. Francis. Francis.
Francis.
Francis!
Und Emma zeigte auf mich. Ich war dieses Geräusch. Ich war dieses Francis. Sagte ich: Francis. Und zeigte dabei auf mich.
Emma streckte ihre faltige, kalte Hand aus. Ich zuckte zusammen. Sie nahm meine Hand und legte sie in ihre Hand. Wir schüttelten uns die Hände. Francis und Emma schüttelten sich die Hände.
Mutter kennenlernen
Emma schloß die Tür des Kinderzimmers auf. Wir gingen Mutter im Salon besuchen. Francis, sagte ich. Mutter küßte mir das ganze Gesicht ab und streichelte mein Haar, sie sagte zu mir: Mutter, Mammi. Sag Mammi. Francis, sagte ich. Überspringen wir einige Monate und viel Lakritze.
Ich konnte reden. Ich konnte Sätze sprechen. Ich konnte mit jedem sprechen und ihre Antworten verstehen. Ich hatte, mit Bedauern, die Welt der Kommunikation betreten. Allerdings wäre ich nicht dort geblieben, wenn da nicht eine Sache gewesen wäre.
Die Unterhaltung der Kinderzimmertage
Stapf, stapf, stapf! Die Süßwarenhändlerin, die Tabakhändlerin, die Audio-Bibliothekarin war auf dem Weg. Hereinspaziert kam sie. Sie nahm meine Hand. Wir wünschten uns einen guten Morgen. Sie setzte sich. Sie drehte sich eine Zigarette, viel zu langsam, sie wußte genau, worauf ich wartete, sie machte es mit Bedacht. Sie nahm ihre Streichhölzer heraus, viel zu langsam, viel zu langsam. Das erste erlosch, noch bevor es seinen Zweck erfüllen konnte, sie hatte es ausgehen lassen und zwar absichtlich, da war ich sicher. Mit dem zweiten zündete sie ihre Zigarette an. Sie nahm einen langen, tiefen Zug. Rauch quoll aus ihrem Mund. Stille.
Was sollen wir heute machen?
Das war es. Darauf wartete ich.
Eine Geschichte, eine Geschichte, rief ich. Das war es, was ich immer und für alle Zeiten wollte.
Emmas Geschichten wurden komplexer und faszinierender, je besser ich sprechen lernte. Emmas Geschichten waren von Generation zu Generation überliefert worden, wobei sie sich immer ein wenig veränderten auf dem Weg von Mutter oder Großmutter zum Kind. Emma hatte viele der Geschichten, die sie erzählte, von ihrer Großmutter gehört: Sie lernte sie auswendig, schmückte sie dann aus oder vergaß Teile und ersetzte diese Teile durch eigene Zusätze. Häufig verlangte ich, daß sie bestimmte Geschichten wieder und wieder erzählte, manchmal veränderte sie dann den Schluß oder überließ es mir, sie zu Ende zu bringen. Wie kann ich Emmas Geschichten beschreiben? Sie waren lebendig. Sie bewegten sich. Sie lebten! Sie waren ein wirbelnder Strudel aus Farben und Gerüchen, die niemals eingefangen werden konnten. Sie veränderten ihre Form, verschlangen sich ineinander, widersprachen sich, die Enden jagten die Anfange, sie schweiften abrupt vom Thema ab oder stürzten sich in andere Geschichten, als wechselten sie nur die Bahnen, preschten in merkwürdige Richtungen davon, vergaßen sich selbst, erinnerten sich wieder, verwandelten sich von Liebesgeschichten in Tragödien oder wieder zurück in Komödien. Ich hörte von Prinzen und Prinzessinnen, von Stiefmüttern, von
Weitere Kostenlose Bücher