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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Gestank beschreiben konnten. Ich wurde schließlich in der Küche fündig. Emma roch wie gekochte Karotten. Aus Emmas Gesicht wuchsen lange, graue Haare, so als hätte sich ihr Kinn in einem Spinnennetz verfangen. Emmas Haut war das Schlimmste. Als sie zum ersten Mal nach Tearsham Park kam, hatte ich Angst vor ihr. Ich hatte Angst vor ihrem Bart, ihren Kleidern, ihrem Geruch, aber am allermeisten angst machte mir Emmas Haut. Häufig schloß ich die Augen, nur damit ich ihre Haut nicht ansehen mußte. Es ist schwierig, Emmas Haut zu beschreiben. Zutaten für eine Beschreibung von Emmas Haut:
    Man nehme eine Apfelsine. Schäle sie.
    Lasse sie sodann mehrere Tage in der Sommersonne liegen.
    Die in der Sonne liegende Apfelsine verliert ihre Farbe, wird weiß und entwickelt dicke, tiefe Furchen. Sie wird auch kleiner. Man zerteile die Apfelsine, nehme eines der dicken, ausgedörrten und faltigen Stücke und reiße es in der Mitte auseinander. Darin, genau in der Mitte, befindet sich ein winziges Stück der ursprünglichen Orange - immer noch fleischig, sich immer noch an einen Rest von Saft klammernd. Müßte ich Emma schälen, dann hätte ich irgendwo tief in ihrem Inneren, hinter dieser dicken und scheintoten Hülle, ein bißchen Leben, ein bißchen Blut gefunden.
    Ich mochte Emma nicht. Nicht zu Anfang. Ich wollte, daß sie wieder ging, ich veranstaltete einen ziemlichen Affentanz und schmiß alles mögliche durch die Gegend. Später betete ich, sie möge ewig leben, aber zunächst flehte ich inständig, daß sie nachts einen schmerzhaften Tod starb. Und doch wußte ich mit meinem Kinderverstand, daß es wenig Hoffnung gab, denn trotz ihres uralten äußeren Erscheinungsbilds verrieten ihre Augen mehr Energie, mehr Leben, als in meinem jugendlichen Körper zu finden war.
Lakritzstunden
    Die geschwärzte und bärtige Emma schloß und verriegelte die Kinderzimmertür hinter sich. Sie lächelte mich nicht an. Sie betrachtete mich kurz und völlig ausdruckslos. Sie setzte sich. Sie öffnete ihre (schwarze) Tasche, nahm eine Tabaksdose und ein Bündel schwarzes Zigarettenpapier mit Lakritzgeschmack heraus. Sie drehte sich eine Zigarette. Sie saß da und rauchte. Sie nahm einen kleinen (schwarzen) Plastikaschenbecher aus ihrer Tasche, stellte ihn vor sich auf den Tisch und füllte ihn mit Asche. Als die Zigarette aufgeraucht war (dies dauerte einige Zeit und sie rauchte, bis sie sich an dem angefeuchteten Ende beinahe die Finger verbrannte), klopfte sie mit den Fingern auf den Tisch. Sie wartete, daß etwas passierte. Ich saß am anderen Ende des Tischs und wartete, daß passierte, was immer da passieren sollte. Stille. Emma nahm ein Stück Lakritz aus ihrer Tasche und lutschte geräuschvoll daran. Schließlich war auch das verschwunden. Sie saß still da. Ich wartete. Nichts. Sie drehte sich eine weitere schwarze Zigarette. Sie rauchte schweigend.
    Mein erster Emma-Tag wurde in Zigaretten und Lakritze gezählt. Sie sagte nichts. Ich ächzte nicht, beobachtete nur. Stunden des Wartens mit Zigaretten- und Lakritzkonsum als einziger Abwechslung. Als die kleinen schwarzen Stummel den Aschenbecher gefüllt hatten und ihre Tüte mit Lakritze leer zu sein schien, stand Emma wieder auf, schob den Stuhl ordentlich unter den Tisch, ging zum Fenster hinüber, öffnete es, leerte den Aschenbecher, verstaute ihn wieder in seinem schwarzen Zuhause, schloss das Fenster, entriegelte die Tür, ging hinaus und schloss die Tür von außen wieder ab. Das war mein erster Tag mit Emma.
Das Echo
    Was die Tage Nummer zwei und drei mit Emma betrifft, siehe Tag eins. Der vierte Tag brachte eine neue Erfahrung.
    Die Stunden mit Emma waren für mich alles andere als angenehm. Ich war ruhelos. Ich wartete darauf, daß sie etwas tat oder sagte. Ich zappelte herum. Ich ließ meine Beine unter dem Tisch baumeln. Ich fing an, mit den Füßen aufzutreten. Emma schaute auf, sie nickte. Ich stampfte fester mit den Füßen auf, sie fing an, mit ihren (schwarzen) Holzschuhen zu trampeln. Wir veranstalteten einen Höllenlärm. Wir trampelten weiter. Ihre Holzschuhe machten einen beeindruckenden Krach auf dem Boden. Als ich aufhörte zu stampfen, hörte sie auf zu trampeln. Wieder Stille. Sie steckte sich eine weitere Zigarette an. Ich stand auf, rannte zur Kinderzimmertür und trommelte mit den Fäusten dagegen. Ich stöhnte. Ich jaulte. Ich brüllte. Erst als ich mich wieder beruhigt hatte, registrierte ich, daß Emma Beifall klatschte und sogar lächelte. Sie

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