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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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daß keine Asche auf meine Handschuhe kam, benutzte ich dazu eine Pinzette, die ich stets dabei hatte). In Schwarz und unmittelbar am Filter war auf das Zigarettenpapier ein Kreis mit den Worten LUCKY STRIKE aufgedruckt. Jetzt konnte ich ihren weggeworfenen Kippen durch die Stadt folgen, bis ich die Stelle fand, wo sie nicht mehr weggeworfen wurden, die Stelle, wo die neue Bewohnerin gerade sein würde. Mir fiel auf, daß ihre Zigarettenstummel ihre Zahnabdrücke trugen. Das wir nützlich: Es bedeutete, daß ich wahrscheinlich keine Zeit damit vergeudete, einer anderen Person zu folgen, die nicht die neue Bewohnerin war, aber ebenfalls Lucky Strikes rauchte.
    Ich folgte den Kippen, die in Abständen von etwa zweihundert Metern aufeinander folgten. Wenn ich eine Kippe gefunden hatte, mußte ich zuerst in alle Richtungen gehen, bevor ich die nächste fand. So kam ich schließlich zu einer Kirche. Auf den Stufen der Kirche lag die letzte Kippe, obwohl es mehr war als eine Kippe: eine halbe, nicht zu Ende gerauchte Zigarette. Daher vermutete ich, daß sich die neue Bewohnerin in der Kirche befand. Die Kirche hatte zwei Ausgänge, der erste führte jenseits des Portals durch eine große Eichentür, der andere war zu finden, indem man in einer Privatkapelle die steinerne Deckplatte eines angedeuteten Grabmales beiseite schob. Hatte man die Platte zur Seite geschoben, stieg man auf grob behauenen Stufen in die Dunkelheit hinab. Und man fand sich in einem Tunnel wieder, einem Tunnel, der immer breiter wurde, je weiter man vordrang. In diesem Tunnel würde man zahlreiche Gegenstände entdecken, 986, um ganz genau zu sein. Ich hielt es für unwahrscheinlich, daß die neue Bewohnerin diesen Ausgang wählen würde, wußten doch nur sehr wenige Menschen davon. Sie würde die Kirche bestimmt durch das Portal verlassen, also wartete ich auf dem Kirchenfriedhof auf sie.
    Ich war seit mehreren Jahren nicht mehr auf diesem Friedhof gewesen und als ich ihn an diesem Tag wieder sah, überkam mich ein seltsam anrührendes Gefühl. Ich kannte jemanden, der hier beerdigt war, jemand, den ich einmal geliebt hatte. Ich nahm ein paar Blumen von einem frischen Grab und legte sie auf das Grab meiner alten Freundin. Der Grabstein trug eine schlichte Inschrift, dort stand, in fetten Großbuchstaben, lediglich ein Wort:
    EMMA
    Denn hier lag Emma begraben.
Eine kurze Rundreise um die Erinnerung an eine Frau namens Emma
    Lange bevor Tearsham Park seinen Namen in »Das Observatorium« änderte und kurz bevor ich anfing, Handschuhe zu tragen, gab es eine Zeit, die man als die Emma-Monate kannte. Emma, bereits eine alte Frau, als ich sie kennenlernte, war die gute Seele des Dorfes Tearsham, in dem das Haus meines Vaters, Tearsham Park, bei weitem das größte Anwesen war. Sie half den alten Junggesellen und Jungfern in unserem Dorf. Sie brachte den Kindern das Schwimmen bei. Sie besuchte die Kranken. Sie betete für die Toten. Wie ich vermute, gehörte zu ihren guten Taten, die der Allgemeinheit weniger in Erinnerung geblieben waren, ein Wunder, das sie eines Tages in Tearsham Park vollbrachte. Emma brachte mir das Sprechen bei.
    Als Kind hielt man mich für zurückgeblieben, gleichwohl ich selbst mein nicht vorhandenes Sprechen weniger auf Blödheit als vielmehr auf Sturheit zurückführen würde. Ich hatte es nicht eilig zu sprechen. Ich konnte mir nicht vorstellen, welchen Vorteil mir Wörter gewähren mochten. Wörter bedeuteten in der Regel Gesellschaft und ich war schon immer allein am glücklichsten. Viele Lehrer und Therapeuten waren nach Tearsham Park geschickt worden und alle waren wieder abgezogen, ohne auch nur ein einziges Wort aus mir herauszukitzeln. Meinen Eltern waren die Lehrer ausgegangen, und irgend jemand mußte wohl Emma als ultimatives Mittel gegen mein Schweigen vorgeschlagen haben. Obgleich meine Eltern skeptisch waren, traf Emma am nächsten Tag ein, da es keine Alternative mehr gab.
Emmas Äußeres
    Von Emma, die niemals verheiratet gewesen war, sprach man nie als Miss Soundso, sondern einfach als Emma, nur Emma. So nannte ich sie, so nannte s.e jeder. Sie lebte allein in einem kleinen Cottage am Dorfrand. Emma trug Schwarz. Die ganz-in-Schwarz-gekleidete Emma. Immerzu schwarz. Selbstgeschneiderte schwarze Kleider. Schwarze Mütze, schwarze Bluse, schwarzer Rock bis hinunter zu den Knöcheln. Dicker, schwarzer Stoff selbst im Sommer. Kratzig. Emma roch. Ich verbrachte Tage mit der Suche nach den Bestandteilen, die ihren

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