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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Berichte über Wolfskinder gelesen. Diese Schilderungen bestärkten uns in unserem Urteil über Zwanzigs entsetzliche Vergangenheit. Ja, Zwanzig war wirklich bemitleidenswert.
Die Zähmung von Zwanzig, Hundedame
    Zwanzig, Hundedame, erlaubte nichts und niemandem, ihr Stück Rasen zu betreten. Bisweilen verirrte sich ein Hund dorthin, meistens, um an Zwanzig zu schnuppern, doch er wurde schnell wieder weggejagt. Menschen fanden es höchst unerfreulich, an dieser Stelle anzuhalten, und gingen weiter. Es war weniger der Flecken Gras, der das Problem war, sondern vielmehr das, was darauf lag: eine Frau, schmutzig, schmierig, mit einem Hundehalsband und zerfetzter Kleidung, bedeckt mit Hundehaaren und stinkend wie eine Kloake. Sie war eine Beleidigung für jeden Geruchssinn, was sie zweifellos ungeheuer erfreute, wie im übrigen alles, was ihr menschliche Kontakte ersparte. Hunde hingegen schienen ihren Gestank faszinierend zu finden und schnüffelten, sofern sie dazu eingeladen wurden, glücklich zwischen ihren Beinen, an jener Stelle, so vermutete ich, wo sich die intensivsten Gerüche fanden. Zwanzig lag bäuchlings auf dem Gras und döste immer noch genauso vor sich hin, wie ich sie einige Zeit früher an diesem Tag bereits gesehen hatte. Als die neue Bewohnerin sich näherte, öffnete sie die Augen und stand auf. Auf allen vieren. Die neue Bewohnerin setzte sich aufs Gras, drei Meter von Zwanzig entfernt. Zunächst schien Zwanzig überrascht, dann ging ihr Hinterteil hoch (was andeutete, daß sich ihr das Fell sträubte), und sie fing an zu knurren. Aber die Bewohnerin rührte sich nicht. Die Bewohnerin lächelte. Dieses Lächeln mochte bei anderen Menschen gewirkt haben, mochte bei der Kreidemalerin gewirkt haben, mochte bei dem Mann mit der Personenwaage gewirkt haben, mochte sogar beim Pförtner gewirkt haben. Es wirkte jedoch nicht bei Zwanzig. Zwanzig knurrte, sie schürzte die Lippen, ihre Augen traten vor. Sie war beleidigt. Das hier war immerhin ihr Flecken, was hatte der Zigaretten rauchende, bebrillte Zweibeiner hier zu suchen? Diese Frau war wirklich erstaunlich. Sie war einer dieser Menschen, die einfach ungerührt in die Privatsphäre anderer Leute eindrangen, sie war jemand, der, wenn er einen Feldweg entlangspazierte, früher oder später auf das unvermeidliche Schild mit der Aufschrift PRIVATBESITZ - ZUTRITT VERBOTEN stoßen und es vorsätzlich ignorieren würde.
    Aber Zwanzig ließ das nicht zu. Sie bellte. Sie bleckte die Zähne. Schwarz und gelb waren sie. Sie näherte sich knurrend so weit, daß sie mit der Nase praktisch das Gesicht der neuen Bewohnerin berührte. Ich dachte daran, der neuen Bewohnerin zuzurufen, sie schwebe in ernster Gefahr. Ich dachte daran, sie von diesem Ort wegzubringen, ihr zu raten, nie mehr dorthin zurückzugehen. Das ist Zwanzigs Platz, hätte ich sagen sollen, und niemand nähert sich Zwanzigs Platz, es sei denn, man ist ein Hund und dann auch nur, wenn man dazu aufgefordert wird. All das hätte ich sagen und tun sollen. Statt dessen unternahm ich gar nichts, ich saß einfach da und schaute zu. Ich lächelte, ich strich über meine Handschuhe und dachte, was ich nun überhaupt nicht hätte denken dürfen. Ich dachte: Mach schon, Zwanzig, beiß sie. Beiß sie! Sorge dafür, dass es richtig weh tut. Und das tat Zwanzig. Zwanzig biß ihr in die Hand, und Blut tropfte von der Hand der neuen Bewohnerin und Tränen traten ihr in die Augen, zeugten davon, dass der Biss mit Sicherheit weh tat. So, dachte ich, jetzt weißt du es. Lass Zwanzig in Ruhe, der Schmerz wird vergehen, die Wunde wird verheilen, geh nach Hause, verbinde deine Hand, trockne deine Tränen. Doch die einen zur Raserei bringende neue Bewohnerin wich nicht einen Zentimeter zurück, sondern hielt Zwanzig, der Hundedame, statt dessen ihre Hand hin, lud sie ein, es noch einmal zu versuchen. Es war, als würde sie sagen, Mach schon, Zwanzig, Hundedame, nimm meinetwegen den ganzen Arm, ich hab schließlich noch einen. Zwanzig starrte die Hand an, dachte darüber nach, überlegte, was dieses Angebot wohl bedeutete. Hätte sie einen Schwanz gehabt, dann hätte sie in diesem Moment bestimmt aufgehört, damit zu wedeln, denn die angebotene Hand und, falls nötig, der dazugehörige Arm konnten nur eines bedeuten: daß die neue Bewohnerin keine Angst vor Zwanzig hatte. Zwanzig war verwirrt. Ich, ein Stück entfernt, war ebenfalls verwirrt. Die neue Bewohnerin schien wild entschlossen. Sie hielt ihren Arm vor Zwanzigs

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