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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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alle Gegenstände im Observatorium beteiligten sich hämisch an dieser verwirrenden Episode in unserem Leben. Wenn wir nach einem Stuhl griffen, stellten wir womöglich fest, daß dieser Stuhl gar nicht existierte: Er hatte vor Jahren einmal dort gestanden und wir hatten uns nur daran erinnert, das war alles.
Die Zeit der Vier Gegenstände
    Eine Periode während dieser Zeit war bekannt als die Zeit der Vier Gegenstände. Die Idee dieser vier verachtenswerten Gegenstände kam jedem von uns in den Kopf und nachdem sie sich dort einmal eingenistet hatte, dehnte sie sich immer weiter aus, bis sie alles war, woran wir noch denken konnten. Ein ledernes Hundehalsband (mit einem Namensschildchen, in das MAX eingraviert war), eine runde Nickelbrille mit dicken Gläsern, ein schwarzweißes Paßphoto eines blassen Mannes (mit der Widmung Claire, Claire, ich liebe dich so sehr auf der Rückseite und unterschrieben mit A. Magnitt, Wohnung 19, Das Observatorium) und ein Lineal aus Mahagoni, das auf beiden Seiten Maßeinheiten in Zoll hatte.
    Die Luft war stickig vor lauter Erinnerungen, wir mußten richtiggehend um jeden Atemzug kämpfen, und während wir atmeten, saugten wir nur noch mehr Erinnerungen auf. Jeder schwelgte nur so in Erinnerungen. Kindheiten stürmten die Treppen des Observatoriums hinauf, Tote lagen in unseren Betten. Im Staub unseres Zuhauses befanden sich winzige Hautpartikel, die wir manchmal Jahre, manchmal nur Tage zuvor abgestoßen hatten. Diese Partikel fingen an, sich selbständig miteinander zu verbinden, so daß wir sahen, wie die Haut eines früheren Ichs unsere Gestalt annahm, ihre frühere Gestalt, und um uns herumstreifte: Es waren die Geister vergangener Häute. Allein Vater, geradezu wendig in seiner Reglosigkeit, gelang es, elegant über all die Geschichten, die an seinen Socken zerrten, hinwegzuschreiten und um sie herumzutanzen. Er schaffte dies, indem er seine Gedanken leer hielt, indem er diese perfekte innere Reglosigkeit erreichte, in der es keine Gedanken mehr gibt, in der Erinnerungen ersticken.
    Der Prolog zur Zeit der Erinnerungen hatte begonnen mit der Ankunft der neuen Bewohnerin, Miss Anna Tap. Und sie war es auch, welche die Geschichten aus uns herausholte, zumindest so lange, bis es einfach zu viele Stimmen waren, zu viele Geister von Gegenständen, als daß sie diese noch kontrollieren konnte. Eigentlich aber begann die Zeit der Erinnerungen mit einem Hundehalsband, das der Frau gehörte, die in Wohnung 20 lebte und sie endete mit einem Todesfall. Nicht mit der Erinnerung an einen Todesfall, gleichwohl Erinnerungen bisweilen mit Todesfällen enden (oder beginnen), sondern mit einem wirklichen Todesfall. Mit einer richtigen Leiche, die sich einfach weigerte, in eine Vergangenheit zurückzusinken, als wir sie berührten. Die Leiche war kalt, und sie war fest.
    Die Bewohner des Observatoriums versuchten, ihre gegenwärtig einsamen Leben mit Menschen aus ihrer Vergangenheit zu bevölkern, damit ihnen womöglich wieder der Sinn nach Gesellschaft stand. Sie machten sich nicht klar, daß Erinnerungen schmerzlich sein könnten. Doch das würden sie schon sehr bald merken. Erinnerungen sollten in Schädeln eingesperrt bleiben oder in einem Tunnel, der sich in seinem Verlauf immer weiter verengt. Zunächst tat ich mein Bestes, die Angelegenheit zu ignorieren, die sich zwei Etagen über mir in Wohnung 16 abspielte, aber nur einen Abend später, nach einem weiteren erfolgreichen Arbeitstag, wurde ich erneut durch das Klopfen des Mannes mit den hundert Gerüchen gestört, der mich unbedingt mit den Erinnerungen bekannt machen wollte, die freigelassen worden waren.
Zwanzig erinnerte sich (1)
    Die Frau, die wir Zwanzig nannten, war gewaschen worden, ihr Gesicht, ihr Körper, ihr Haar war sauber. Man hatte sie in eines von Claire Higgs Kleider gesteckt, sie sah völlig verändert aus, wie man mir sagte. Sie hatte sich erinnert und sogar wieder gelacht. Zwanzig erinnerte sich an die Zahl 20. Es war die Zahl, die sie dazu gebracht hatte, auf der obersten Etage des Observatoriums zu leben. 20, die Zwei und die Null, genau in dieser Reihenfolge zusammengefügt, übten einen unwiderstehlichen Reiz auf sie aus. Sie erinnerte sich, daß sie in der Zeit, als sie in einem fremden Land lebte, genaugenommen in ihrer Heimat, in einem Wohnblock lebte, und die Zahl an ihrer Tür war genau die gleiche gewesen. 20.
Claire Higg erinnerte sich (1)
    Der ursprüngliche Zweck der Zeit der Erinnerungen war es, Zwanzig

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