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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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an das perfekte, staubfreie Blau der Teppiche und an das fleckenfreie Blauweiß der tapezierten Wände. Als er seinen großen Schlüsselbund spürte, erinnerte sich der Pförtner an eine Zeit, als diese Schlüssel die Türen zu den Leben so vieler verschiedener Menschen öffnen konnten. Damals war er ein glücklicher Pförtner gewesen. Allerdings besaß er nur noch eine vage Erinnerung, wie sich Glücklichsein anfühlte.
Mutter erinnerte sich
    Mutter, in horizontaler Lage auf ihrem Bett, erinnerte sich an eine Zeit, die sie noch senkrecht erlebte. Sie erinnerte sich an die gleiche Zeit, an die sich auch der Pförtner erinnerte, an jene Zeit, als das Observatorium als attraktive Adresse galt. Aber ihre Erinnerungen an diese Zeit umfaßten nicht staubfreie blaue Teppiche oder fleckenfreie, blauweißgestreifte Tapeten. Sie hatte es versäumt, sich dies zu merken. Sie erinnerte sich an eine Zeit, als Wohnung 8 von einem schlanken Junggesellen bewohnt wurde. Sie erinnerte sich an das Doppelbett des schlanken Junggesellen, das groß genug war für einen Junggesellen und eine Frau, sei sie nun ledig oder verwitwet. Sie erinnerte sich, daß sie sich selbst Witwe nannte, obwohl sie sich noch erinnerte, daß ihr Mann noch lebte. Die Erinnerungen meiner Mutter wurden in ihrem Erinnerungskino für einen Augenblick durch das Erscheinen meines Vaters unterbrochen. Und als sein Gesicht auf ihre Leinwand kam, da war es, als stünde dort ENDE, denn Vaters Gesicht hielt ihren Erinnerungsstrom an, trocknete ihn aus. Wenn sie Vaters Gesicht sah, zählte sie bis zehn oder zwanzig oder fünfzig, manchmal bis tausend, normalerweise sperrten die Zahlen ihn aus. Sie beendete ihre Erinnerungsvorstellungen immer genau dann, wenn Vater darin auftauchte. Sie wollte sich nicht an Vater als Teil dieser Zeit erinnern, als sie noch senkrecht gewesen war. Und horizontal. Und dann erinnerte sie sich wieder an dieses Junggesellenbett in Wohnung 8. Sie erinnerte sich daran, dort nackt gelegen zu haben, und der Junggeselle lag nackt neben ihr. Ihre Erinnerungen hatten sie dermaßen erregt, daß sie eine Hand ausstreckte, um den Junggesellen zwischen den Beinen zu berühren, aber er war nicht da. Ach ja, erinnerte sie sich unglücklich, er ist fort, nicht wahr? Hat Wohnung 8 verlassen, hat das Observatorium verlassen, hat Alice Orme verlassen. Aber sie erinnerte sich noch, ihn Bastard genannt zu haben, bevor er ging.
    Mutter erinnerte sich mit Hilfe von Gegenständen, wie ich ja bereits angedeutet habe und diese spezielle Erinnerung wurde ihr durch eine Herrenunterhose geliefert, die, ohne Inhalt, auf einem der Stühle in Mutters Schlafzimmer lag. In einer längst vergangenen Zeit zog sie ihm diese Unterhose aus. Er jedoch zog sie wieder an, darüber seine Anzugshose, und kurz darauf war er vollständig bekleidet und dann ging er mit all seinen Unterhosen (bis auf eine) fort. Aber sie erinnerte sich, ihn ein zweites Mal Bastard genannt zu haben, bevor sie anfing zu weinen, obwohl sie es in Wirklichkeit nur einmal gesagt hatte. Wiederholung. Mutter hatte wahrscheinlich zu dem Junggesellen Bastard gesagt und bereits zwölf- oder dreizehnmal an diesem Tag zu weinen begonnen. Die Erinnerungen drehten sich in ihrem Kopf wie ein Riesenrad, oft hielt sie das Rad an, wenn es zu Herrenunterhosen kam. Mutter bewegte sich immer in einem Teufelskreis von Erinnerungen, der mit Herrenunterhosen begann und mit Bastard endete.
Vater erinnerte sich
    Aber Vater erinnerte sich an nichts. Vater saß in seinem roten Ledersessel, bewegungslos wie die Zeichen auf einem Zifferblatt, starrte vor sich hin, ohne sich je zu rühren, während Stunden- und Minuten- und Sekundenzeiger ihn umkreisten (gegen den Uhrzeigersinn). Falls er sich überhaupt an etwas erinnerte, was ich nicht glaube, dann erinnerte er sich daran, sich nicht zu erinnern.
Anna Tap erinnerte sich (1)
    Claire Higg in ihrer Wohnung 16 mit ihren Gästen, die jetzt schwiegen und sich mehr als nur ein wenig beklommen fühlten, dachte immer noch vage an ihre alte Arbeit in der Strumpfabteilung und fragte Anna Tap, welche Anstellung sie gehabt habe. Und so kam es, daß sich Anna Tap an ihre Arbeitsstelle erinnerte, die sich in der Abteilung für Textilerhaltung im dritten Stock des Stadtmuseums befunden hatte. Sie erinnerte sich an die Tür ihres Büros. Auf der anderen Seite dieser Tür befanden sich Werkbänke, Mikroskope, Standlupen, Farbstoffe, verschiedene Wachse, Baumwolle, organische Lösungsmittel, Harze,

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