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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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konstruiert ist.
    In diesem Augenblick schien er Jahrzehnte älter zu werden, alle Hoffnung und Liebe in seinem Gesicht zu verlieren. Peter Bugg begann zu weinen, und wir verließen eilig das Geschäft. Er weinte auch während unseres gesamten Besuchs im Wachsfigurenmuseum. Jedesmal, wenn ich versuchte, mich neben einen meiner Freunde aus Wachs zu stellen und eine gewisse Reglosigkeit zu erlangen, auch wenn es nur eine äußere war, wurde ich von seinem fortwährenden Geschluchze abgelenkt. Wie erwachsen, wie reif und unerschrocken er die Wachsmenschen erscheinen ließ. Allerdings glaube ich nicht, daß mein Privatlehrer auch nur einen einzigen von ihnen wirklich ansah. Er schluchzte und zitterte am ganzen Körper während des gesamten Besuchs. Da ich von ihm vor meinen Wachsfreunden in Verlegenheit gebracht und beleidigt wurde, schlug ich schließlich vor, nach Hause zurückzukehren. Er nickte schmollend und ließ sich von mir an der Hand aus dem Museum führen.
    Auf dem Heimweg im Taxi wischte Bugg sich die Tränen ab und sammelte sich, um vor meinen Eltern unverändert zu erscheinen. Ich begann mich zu fragen, wie ich mich von ihm hatte bedroht fühlen können, von diesem Mann, der mit Spielsachen spielte und wie ein kleines Kind weinte, sobald er zurechtgewiesen wurde. Und ich fing an zu verstehen, daß ich den kleinen Mann Peter Bugg womöglich besiegen könnte, wenn es mir gelang, mich im Kinderzimmer zu beherrschen, wenn es mir gelang, so zu tun, als könnte das Lineal mir nicht weh tun.
    Es dauerte einige Monate, bis ich mich soweit unter Kontrolle hatte. Ich ließ zu, daß meine Knöchel blutig geschlagen wurden, ohne sie zu schützen oder ihnen anschließend groß Beachtung zu schenken. Zunächst reagierte Bugg auf meine scheinbare Ungerührtheit, indem er mich fester oder an anderen Stellen schlug, auf den Kopf, auf den Nacken, quer über die Rippen. Doch mit der Zeit drückte er seine Verzweiflung über mein Phlegma mit langen Wutausbrüchen voller Schmähungen aus, was stets faszinierend zu beobachten war. Er schnaubte, sein blasses Gesicht lief dunkelblau an, er knirschte zwischen den Sätzen mit den Zähnen und stampfte mit den Füßen, um seinen Worten noch mehr Gewicht zu verleihen. Und diese Worte selbst sprudelten haßerfüllt hervor, waren durchtränkt von Speichel und Sabber: all die Früchte seines beträchtlichen Vokabulars zum Thema Dummheit, doch selbst diese waren bald erschöpft, und er war gezwungen, sich auf Fussgestampfe oder frustriertes Gejammer zu beschränken. Diese Wutanfälle waren außergewöhnlich sehenswert, ja sogar angenehm, eine willkommene Pause zwischen Latein und Mathematik. Am Ende beruhigte er sich wieder, indem er sich mit dem Rücken zu mir setzte und leise seine Lieblingskapitel aus den Feldzügen des Julius Cäsar vor sich hin murmelte oder indem er sich eine komplizierte Gleichung stellte und diese geschickt löste. Langsam nahm dann seine wütende, gerötete Haut wieder ihr gewohntes Weiß an, und der Unterricht konnte weitergehen.
    Meine Knöchel verheilten.
    Chiron wurde grau vor Staub.
Mahagoni zum Schweigen bringen
    Gelegentlich und völlig unerwartet war er wie früher und verprügelte mich. Vielleicht war es so sehr Bestandteil seiner Lehrmethoden und für ihn so natürlich, daß er kaum registrierte, was er tat. Es ist natürlich sehr großmütig, das so zu sehen. Ich vermute, es machte ihm Spaß, Strafen zu verhängen. Ich vermute, die Reaktionen der Bestraften waren für ihn zutiefst befriedigend. Eine Befriedigung vielleicht, der nichts gleichkam, was er sonst noch tat oder sah. Vielleicht war es seine geheime Leidenschaft. Vielleicht bin ich jetzt nicht ganz so großmütig.
    Es war an einem dieser sonderbaren Tage, an denen Bugg zu jäher und kurzer Gewalttätigkeit zurückkehrte, daß Chiron in den ewigen und schon lange erwarteten Ruhestand versetzt wurde.
    Ich war wieder einmal, was nicht weiter ungewöhnlich war, des Verbrechens der Trägheit beschuldigt worden und schon einen Augenblick später streifte Chiron seine Haut aus Staub ab und ließ mit einem einzigen Hieb die Knöchel meiner rechten Hand aufplatzen. Da ich meine Selbstdisziplin etwas gelockert hatte, verlieh ich meinem Schmerz ausnahmsweise Ausdruck. Bugg grinste breit.
    Um drei Uhr am folgenden Morgen schlich ich auf Zehenspitzen in der Dunkelheit zu einem gewissen Schlafzimmer voller Bücher, in dem ein gewisser Gentleman voller Bücher Träumen voller Bücher nachhing. Peter Bugg,

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