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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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dessen schwarze Locken in einem Haarnetz gefangen waren, träumte tief und fest, sprach im Schlaf mit Edelleuten und Kaisern einer längst vergessenen Zeit. Seine Tür ging auf, aber er wußte nichts davon. Das Gewicht der Geschichte lag auf seinen geschlossenen Lidern. Sein Bibliotheksverstand konnte nicht sehen, daß der Feind in seine Bibliothek mit Schlafzimmer einmarschiert war, allerdings waren nicht die barbarischen Goten gekommen, um die Zivilisation auszulöschen, sondern ein einzelner Junge im schulpflichtigen Alter und in Schlafanzug, Morgenmantel und Pantoffeln. Er hatte einen Ausdruck auf seinem rundlichen Gesicht, der nichts Gutes verhieß.
    Peter Bugg hatte einen Bettgenossen, keinen eingebildeten, sondern einen sehr realen. Der Genosse lag zugedeckt neben ihm. Obgleich der Bettgenosse keine Frau war, war er praktisch seine Ehefrau. Hätte er eine Stimme besessen, dann hätte er seinen Herrn jetzt zu den Waffen gekräht. Aber er hatte keine und brüllte nicht, als er aus dem Bett genommen, aus der BuchNacht entfernt und in den Keller von Tearsham Park gebracht wurde, wo er in einen kalten, feuchten Tunnel geworfen und für immer dort liegengelassen wurde. Derselbe Tunnel, in dem sich Jahre später auch meine Ausstellung befand und ihm Gesellschaft leistete. Das Lineal wurde zu Nummer 52.
    Der Kriminelle aber kehrte strahlend wie ein Honigkuchenpferd in sein Kinderzimmer und zu herrlichen Träumen über ermordete Lineale zurück. Lebe wohl, Chiron, von Insekten überkrochen, für die er nur mehr ein simples Stück Holz war, ganz allein dort unten für so viele Jahre, ohne Bücher, ohne Stimmen, ohne Knöchel und nichts zu tun. Wie fühlte es sich an, eine solche Einsamkeit zu spüren?
Der vielseitig begabte Peter Bugg
    Natürlich schrie er Entführung! Natürlich war ich der einzige Verdächtige. Natürlich wurde das ganze Haus abgesucht. Aber niemand fand Chiron. Und ich beteuerte beharrlich meine Unschuld. Jeder wußte, daß ich das Lineal genommen hatte, aber sie hatten keinen Beweis. Ich spielte vorbildlich das Unschuldslamm und leitete sogar die Untersuchungen. Wir durchsuchten die Zimmer des Dienstpersonals, Vaters Bibliothek, Mutters Salon. Im Kinderzimmer stellten wir alles auf den Kopf. Wir durchkämmten den Garten, durchforsteten die Felder. Wo konnte dieses Lineal nur sein?
    Sie, wir, suchten überall. Nichts. Der Unterricht wurde für zwei Tage ausgesetzt, jeder durchsuchte jeden und alles. Mr. Bugg saß unterdessen in stiller Trauer mit einer Wärmflasche im Bett und versuchte, mit seinem Verlust zurechtzukommen. Aber niemand schaute in einem gewissen Tunnel nach. Ihn zu betreten war streng verboten. Ein gewisser Geist eines gewissen fetten und dünnen Kavaliers hauste dort unten. Dieser Ort durfte nicht gestört werden. Du darfst dort nicht hinein, Francis, hast du mich verstanden?
    Am dritten Tag schickte man mich in Buggs Zimmer. Ich sollte unterrichtet werden, während er noch im Bett lag und mit seinem Verlust kämpfte. Es war ein freundlicherer, netterer Peter Bugg. Er sprach mit leiser Stimme:
    Bitte, Francis, falls du Chiron hast, gib ihn mir zurück. Ich schwöre, ich werde ihn nie wieder mit in den Unterricht bringen. Sir, wenn ich ihn hätte, würde ich ihn liebend gerne zurückgeben. Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wo er geblieben sein könnte. Ich werde ihn ebenfalls sehr vermissen, denn er hat mir so vieles beigebracht.
    Er war ein Geschenk von meinem Vater. Das dort ist Vater.
    Mr. Bugg zeigte auf eine Photographie in einem silbernen Bilderrahmen (dasselbe Photo übrigens, das Peter Bugg mir an jenem Abend viele Jahre später zur vorübergehenden Verwahrung gegeben hatte). Der Abgebildete war ein gehässig aussehender Mann mit dunklen Haaren und Koteletten.
    Mein Vater war wie ich Lehrer. Ein fabelhafter Lehrer, der beste, den es je gab. Er hatte viele Tausende von Büchern gelesen. Er lehrte an einer Universität. Er war ein richtiger Professor. Als er starb, kamen dreihundert Menschen zu seiner Beerdigung. Es hat nie einen größeren Mann gegeben. So bescheiden, so liebenswürdig, so unendlich klug. In seinem Unterricht faulenzte niemand, jeder saß kerzengerade da, hörte zu, wurde inspiriert, befand sich in Gegenwart wahrer Größe. Er veröffentlichte sieben Bücher. Allesamt Meisterwerke, ausnahmslos wegweisend auf ihrem Gebiet. Vielleicht werde ich sie dir eines Tages einmal zeigen, wenn du sie verstehen kannst. Chiron war sein Lineal. Chiron ist eine Figur

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