Das verlorene Observatorium
schneiden ließ, würde ich todsicher ein Paar weiße Baumwollhandschuhe ruinieren.
Ich gehe an meinen zahlreichen Kollegen vorbei
Ich ging quer durch die Stadt, zog es bei dieser Gelegenheit vor, zu Fuß zu gehen und nicht den Bus zu nehmen. Auf meinem Weg kam ich an meinen zahlreichen Kollegen vorbei, an den Straßenprofis unserer Stadt, die sich ihren Lebensunterhalt mit ihren beschränkten Talenten verdienten. Sie konnten überleben, weil sie sich mit einem selbstsicheren Lächeln ihrem Publikum präsentierten, beinahe überzeugend jene Verzweiflung verbargen, die Löcher in ihre Seelen gefressen hatte. Sie waren angeschlagene und verkümmerte Ausstellungsstücke für die ewige Unverwüstlichkeit des Menschen.
Ich ging vorbei an dem Mann mit der Waage. Ein Stück weiter begegnete ich der nervösen und gereizten Frau mit den Zuckungen. Sie hieß Mad Lizzy und verbrachte den ganzen Tag mit Photographieren. Mad Lizzys Photos waren ausnahmslos Schnappschüsse von Menschen, die durch die Stadt gingen oder rannten. Sie versuche, so erklärte sie mir einmal, die Essenz des urbanen Lebens einzufangen. Später würde sie einen Stand aufmachen, um diese Photos zu verkaufen und ihren potentiellen Kunden zuzubrüllen, daß sie große Kunst seien. Die Tatsache, daß sie nur wenige dieser Photos verkaufte, stellte für Mad Lizzy in ihrer sonderbaren Logik nicht nur eine der großen Ungerechtigkeiten der Welt dar, sondern war zugleich auch der schlagende Beweis für ihren Wert. Ich ging vorbei an Pascal, dem blinden Akkordeonspieler und an Samuel, dem Entfesselungskünstler (der sich seine Ketten um den Körper gewickelt hatte). Und ich ging vorbei an Moses (der in Wirklichkeit Philip hieß), dem lautstarken Propheten, der sein zusammenklappbares Kreuz hinter sich aufgestellt hatte und dessen Predigten, die man für drei Münzen das Stück erwerben konnte, vor ihm am Straßenrand lagen. Ich ging vorbei an Sad Eddy, der seine roten Rosen verkaufte, ich ging vorbei an Claudia, der winzigen Cellistin (an deren zerkratztem und verbeultem Cello ein Schild lehnte, worauf zu lesen war, daß sie einst im Konzertsaal der Stadt gespielt, dann aber schlechte Zeiten erlebt hatte, gleichwohl hier die präzisere Angabe gewesen wäre: am Konzertsaal gespielt), ich ging vorbei an Herbert, dem syphilitischen Zauberer, mit seiner einbeinigen weißen Taube (obwohl es eigentlich eine ganz normale Stadttaube war, die er gebleicht hatte), ich ging vorbei an Hamish, dem Salamander, Hamish mit seinen versengten Lippen und dem von Brandnarben übersäten Körper, Erinnerungen an seine Zeit als Feuerschlucker. Ich ging vorbei an Carlo, dem ältesten der Straßenprofis, der sich mit Hilfe einer verbogenen Krücke aufrecht hielt, die er sich aus einer Gerüststange gemacht hatte. Früher hatte sich Carlo immer ein Holzbein angeschnallt, das er für das Publikum auszog, aber leider hatte ihm jemand dieses Bein gestohlen (Position 634). Ihnen allen nickte ich zu. Und schließlich kam ich an Constantin, dem Schlangenmensch, vorbei und an Constantin vorbeizukommen bedeutete, daß ich mein Ziel erreicht hatte.
Das Wachsfigurenmuseum
Das Wachsfigurenmuseum war ein großes, jedoch recht gewöhnliches Backsteingebäude, das durch riesige Fiberglassäulen und Karyatiden teilweise verkleidet worden war, wobei bereits ein einfacher Schlag gegen dieselben verraten würde, daß sie hohl waren. Dieses Wachsfigurenmuseum, vor dem Constantin bereits seit vielen Jahre arbeitete, war ein beliebter Platz, um den er hatte kämpfen müssen und den er aufgrund seiner außergewöhnlichen, wenn auch nicht wirklich geschmackvollen Talente der winzigen Claudia mit dem Cello abspenstig gemacht hatte. Im Wachsfigurenmuseum arbeitete mein einziger Freund mit Wachs.
Begegnung mit meinem einzigen echten Freund
Die Wachsbildhauer kümmerten sich ausschließlich um die Köpfe, die sie formten, die sie so sorgfältig modellierten, daß sie berühmten Persönlichkeiten glichen. Für den Rest des Ausstellungsstückes aber, für Arme, Beine, den Torso, alle Körperteile, die bei allen Menschen gleich sind, wurden Abdrücke von den Körpern der Halb-Wachshalb-Mensch-
Puppen genommen und dann ausgegossen. Unter uns Puppen befanden sich Männer wie Frauen, alt und jung. Wir waren ideale Spender von Körperabdrücken. Als Gegenleistung war es üblich, daß der Bildhauer die Halb-Wachshalb-Mensch-Puppe auf irgendeine Weise für die Zeit entschädigte, die sie auf der obersten Etage des
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