Das verlorene Observatorium
sehen.
Nein, überhaupt nicht. Wir werden sehr diskret sein.
Und so, voller Hoffnung, aber auch nervös, die Hände wieder in ihren Handschuhen verborgen, folgte ich dem Mann die verbotene Treppe hinauf zur obersten Etage, hinter die Tür, auf der stand: NUR FÜR PERSONAL.
Wir betraten einen äußerst langen, in zwei Hälften geteilten Raum. Im ersten Teil befanden sich zahlreiche Tapeziertische, auf denen viele unvollendete Köpfe und Gliedmaßen von zukünftigen Puppen lagen. Alles sah aus, als gehörte es zu einer Lehrakademie für Präparatoren oder in einen AnatomieSeminarraum oder in eine Transplantationsfabrik. Oder als beherberge die oberste Etage des Wachsfigurenmuseums die Überreste einer Hinrichtung. Jenseits der Tische, im zweiten Teil des Raumes, befanden sich zahlreiche abgeteilte Arbeitsplätze, wo die Bildhauer ruhig und ungestört arbeiteten. Sie formten Ton, der anschließend mit Gips überzogen wurde, um so eine Gußform zu erhalten, die dann mit Wachs gefüllt wurde. Der Bildhauer brachte mich in seine Kabine.
Nehmen Sie Platz. Atmen Sie tief durch. Entspannen Sie sich. Es wird nicht lange dauern.
Bevor er mir die Handschuhe abnahm, verband er mir freundlicherweise die Augen. Da er mit seinen Händen außerordentlich geschickt umging, streifte er mir die Handschuhe mühelos ab. Er führte die Operation so behutsam wie möglich durch, aber die Nägel waren recht lang geworden, und es war nicht einfach, sie zu schneiden. Jedesmal, wenn er mit einem fertig war, hörte ich ein lautes Knacken, und mir wurde ein wenig schummerig. Aber er schaffte es, die Nägel wurden gestutzt, und meine Handschuhe wurden wieder angelegt.
So, das wäre geschafft. Schön kurze Nägel. Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee, Francis?
Ich weiß nicht.
Ich nehme eine.
Woher kennen Sie meinen Namen?
Hier kennt jeder den Namen von jedem. Das werden Sie schon noch mitbekommen, wenn Sie erst einmal eine Weile hier sind. Ich heiße übrigens William.
Der Kaffee war stark und schwarz. So trinke er ihn, sagte er, um wach zu bleiben, denn oft genug modellierte er bis tief in die Nacht hinein. Ich bemerkte, daß er am Kopf eines jungen Mannes arbeitete, der etwa mein Alter hatte. William fragte, ob ich den jungen Mann erkenne. Ich schüttelte den Kopf. Darüber schien er ein wenig enttäuscht zu sein und zeigte mir verschiedene Photographien des Mannes. Ich sah, und äußerte dies auch, daß die Ähnlichkeit seines Kopfes mit den Photographien sehr groß war. Aber Sie erkennen ihn immer noch nicht? Kopf und Photographien waren offensichtlich von einem jungen, berühmten Schauspieler, der erst vor kurzem gestorben war und dessen Modell in das Wachsfigurenmuseum aufgenommen werden sollte. Wahrend unseres Gesprächs an diesem Tag fand William heraus, daß ich fast nie wußte, wen die verschiedenen Wachsfiguren darstellen sollten. Und so kam es, daß ich mein Zuhause erwähnte.
Wo sind Sie gewesen, Francis?
Hauptsächlich in Tearsham Park, und in letzter Zeit im Observatorium.
Wo liegt das?
Sie haben noch nie vom Observatorium oder von Tearsham Park gehört? Wo sind Sie denn gewesen?
William hatte von beiden noch nie gehört, und ich musste zum ersten Mal erkennen, dass mein Zuhause, der Mittelpunkt meiner Existenz, eigentlich nur eine von vielen menschlichen Ansiedlungen war. Tearsham Park, das Observatorium: völlig durchschnittlich. Nachdem ich meinen Kaffee getrunken hatte, bedankte ich mich mehrmals bei William. Er sagte, keine Ursache, das war doch nichts. Er log. Es war sehr wohl etwas. Etwas Gewaltiges. William erklärte sich einverstanden, mir auch in Zukunft gern behilflich zu sein, wenn meine Nägel wieder geschnitten werden mussten. Ich ließ ihn dann mit dem Kopf des jungen Schauspielers zurück.
Ein kurzer Bericht über die Stifierin des Wachsfigurenmuseums
Unsere Stifterin, denn so nannten wir sie, war schon viele Jahre tot. In der Eingangshalle stand eine Wachsfigur von ihr. Ich hatte nicht gewußt, daß sie es war. Dies erfuhr ich erst von William, der mir ihre Geschichte erzählte. Unsere Stifterin war mit einigen der berühmtesten Menschen ihrer Zeit befreundet gewesen. Sie war Künstlerin, eine Bildhauerin. Unsere Stifterin hatte eine berühmte Freundin, die schon sehr alt war und wahrscheinlich bald sterben würde. Sie beschloß, die Erinnerung an ihre Freundin zu konservieren. Sie machte einen Gipsabdruck von ihrem Gesicht und füllte den Abdruck mit Bienenwachs. Als die Freundin starb, hatte
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