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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Unsere Stifterin ein Modell ihrer Freundin, das ihr Gesellschaft leisten konnte. Auf die gleiche Weise begann Unsere Stifterin nach und nach Wachsabdrücke von all ihren Freunden anzufertigen, und zu gegebener Zeit wurden ihre Modelle berühmt. Da sie vermeiden wollte, daß ihre Privatwohnung, in der es ohnehin schon voll genug war (gleichwohl mit Wachsfiguren), ständig besucht wurde, fing sie an, Geld von den Leuten zu nehmen, die ihren merkwürdigen Besitz sehen wollten. Zu ihrer Überraschung aber stellte sie fest, daß die Menschen nur zu gern bereit waren, die geforderte Summe zu zahlen, um die Wachsabdrücke ihrer berühmten Freunde sehen zu dürfen. So kam es, daß aus der Wohnung Unserer Stifterin eine Ausstellung wurde. Jahre später war Unsere Stifterin, inzwischen eine alte und sehr vermögende Frau, häufig zu sehen, wie sie zwischen den Wachsfiguren ihrer Freunde umherging. Sie hatte sie alle überlebt, lebte aber inmitten von Erinnerungen an ihre Gesichter, ihre Augenfarbe, Haarfarbe, Kleider und Schuhe und Körpergröße. Immer hatte sie sich den Abschnitt aus dem Leben ihrer Freunde ausgesucht, an den sie sich erinnern wollte; manche hatte sie in ihren jungen Jahren modelliert, andere im Alter. Kurz vor ihrem Tod ließ sie ein Wachsmodell von sich selbst anfertigen, so wie sie zu diesem Zeitpunkt aussah. Dieses stellte sie zwischen die Wachsabdrücke ihrer Freunde. Sie beobachtete, wie ihr in Wachs gegossenes Selbst ihre in Wachs gegossenen Freunde beobachtete. Die Erinnerung an ihre Freunde und an ihre Trauer um ihre Freunde war perfekt in Wachs konserviert. Dann bekam sie einen Herzinfarkt und starb. Im Alter von 102 Jahren.
    Sämtliche Wachsfiguren des Museums stammten von berühmten Menschen aus allen Epochen. Ihre Geschichten erfuhr ich durch Williams Erzählungen. Die Wachsbildhauer besaßen nicht die Freiheit, sich die Objekte selbst aussuchen zu dürfen, die sie modellierten. Der Beirat des Wachsfigurenmuseums, der im größten aller Wachsfigurenmuseen in unserer Hauptstadt saß, beschloß, welche Figuren angefertigt werden sollten. Der Beirat entschied, wer berühmt war und wer nicht, wer modelliert würde und wen man ignorierte. Er erschuf Namen, indem Skulpturen von Menschen in Auftrag gegeben wurden, von denen nie zuvor jemand gehört hatte. Und er vernichtete Namen, indem er die Entfernung einer Wachsfigur bekanntgab und so die jeweilige Person in öffentliche Schmach und Schande stürzte.
    Mir fiel in meiner Empörung auf, daß die Museumsbesucher besonders auf Wachsreproduktionen jener Leute reagierten, die sie wiedererkannten. Es war eine unter Besuchern verbreitete Unsitte, sich neben diesen Wachsfiguren photographieren zu lassen. Die Besucher aber verstanden nie, daß diese Wachsfiguren unabhängig von ihren menschlichen Gegenstücken eine eigene Identität besaßen. Die von diesen Besuchern (unbedeutenden, kleinen Menschen) gemachten Photographien, die Art, wie sie ihre schmutzigen Finger auf die Schultern einiger meiner besten Wachsbekannten legten, erschienen mir durch und durch pervers. Diese selbstverliebte Gedankenlosigkeit war ein erstklassiges Beispiel für menschliche Dummheit. Die Besucher versuchten, sich selbst vorzumachen, sie wären diesen vermeintlich berühmten Menschen tatsächlich begegnet; als würde deren Persönlichkeit irgendwie auf sie abfärben, als würden sie plötzlich selbst ein klein wenig berühmt, wenn sie sich neben die Wachsreproduktion einer berühmten Persönlichkeit stellten. Sie betrachteten die Wachskopien und machten tiefschürfende Bemerkungen:
    Mir war nie bewusst, dass sie so groß war! Ich bin größer als er, wer hätte das gedacht? Sich vorzustellen, daß ich so dicht neben ihr stehen kann!
    Die Besucher waren nicht in der Lage zu erkennen, was das Wachsfigurenmuseum war. Sie sahen eine Ruhmeshalle, und indem sie Photographien machten, glaubten sie, für einen Augenblick dem Ruhm ganz nah zu sein, ihn sogar berühren zu können. Aber darum geht es bei dem Wachsfigurenmuseum überhaupt nicht. Das Wachsfigurenmuseum ist eine äußerst aussagekräftige Abhandlung über die wunderbare Gewöhnlichkeit des Menschen Den Ruhm konnten wir vergessen, wirklich wichtig ist, daß wir es mit Menschen zu tun hatten: mit Nasen, Ohren, Augen. Es ist eine Ausstellung, welche den Menschen in all seinen verschiedenen Lebensaltern zeigt, von Babys bis zu alten Hexen. Die Tatsache, daß die Ausstellungsstücke zufälligerweise auch noch berühmt sind, ist

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