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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Wachsfigurenmuseums verbrachte, wo alle Exponate hergestellt wurden. Diese Entschädigung erfolgte bisweilen in Form von Geld, manchmal war es etwas zu essen, andere Male machte man kleine Geschenke, ein billiges Schmuckstück vielleicht oder ein Feuerzeug. Aber es bestand ein stillschweigendes Abkommen, daß die Puppe belohnt werden mußte.
    Von dieser Tradition wußte ich noch nichts, als ich meine Arbeit im Wachsfigurenmuseum aufnahm. Wir Halb-Wachshalb-Mensch-Puppen kommunizierten nur sehr selten miteinander, immerhin wurden wir nicht dafür bezahlt, gesellig zu sein, wir wurden dafür bezahlt, bewegungslos zu bleiben. Nur ein einziges Mal während meiner Anstellung im Wachsfigurenmuseum wurde dieses Gesetz der Ungeselligkeit ernsthaft gebrochen. Eine männliche und eine weibliche Puppe starrten einander unentwegt über die gesamte Länge des Großen Saales hinweg an. Sie zwinkerten sich gelegentlich zu und warfen Luftküsse oder klimperten mit den Wimpern. Nach einer Weile jedoch wurden sie entdeckt und sofort entlassen. Das war die Strafe für übertriebene Geselligkeit. Als ich meine Kollegen die Treppe hinauf in das geheimnisvolle oberste Stockwerk des Wachsfigurenmuseums steigen und durch eine Tür mit der Aufschrift NUR FÜR PERSONAL verschwinden sah, konnte ich daher auch nicht wissen, warum die beiden dort hinaufgeschickt wurden und was genau sich hinter dieser Tür befand.
    Die Wachsbildhauer waren eine lärmende Truppe, die sich in der Kantine immer laut unterhielt, ohne jemals auf das Zartgefühl der Puppen Rücksicht zu nehmen. Ich bin überzeugt, daß sie uns in Wahrheit für minderwertige Geschöpfe hielten, für ungelernte Arbeiter. Sie lachten, sie schmatzten, hauten mit dem Besteck gegen ihre Teller. Sie sorgten dafür, daß unsere Mittagspausen äußerst unerfreulich waren.
    In einer Mittagspause fühlte ich mich ganz besonders belästigt, da ich bemerkte, daß die Bildhauer über mich redeten. Zumindest wurden die Worte neuer Bursche und Handschuhe immerzu wiederholt. Gerade als es mir gelungen war, mich davon zu überzeugen, daß dies ein Zufall war, schaute einer der Wachsbildhauer aus dem Kreis seiner Kollegen auf und lächelte mich an. Bewußt. Unverkennbar. Ich saß immer allein an einem Tisch, so weit weg von allen anderen wie nur irgend möglich; aus diesem Grund konnte der Bildhauer niemand anderen außer mir angelächelt haben. Er hatte mich für sein Lächeln ausgewählt. Er hatte sich entschieden, mir sein Lächeln zu schenken und niemand anderem. Die Folge dieses plötzlichen Freundlichkeitsangriffs war, daß ich von da an meine Mittagspausen in der Ruhe und Abgeschiedenheit des Umkleideraums verbrachte, wo ich nicht befürchten mußte, angelächelt zu werden.
    Ich hatte meine weißen Handschuhe bereits einige Jahre getragen, bevor ich die Anstellung im Wachsfigurenmuseum fand, und hatte daher die schmerzhafte Routine des Nägelschneidens zu diesem Zeitpunkt schon perfektioniert. Da das Schneiden der Nägel mit sich brachte, die Hände aus den Handschuhen nehmen zu müssen, mit sich brachte, nackte Hände zeigen zu müssen, verabscheute ich diese Maßnahme sehr. Für mich war es widerlich, ein Affront gegen mein Handschuhtragen. Doch weil nicht geschnittene Nägel sich durch die weiße Baumwolle arbeiten konnten, war ich zu dem Zugeständnis gezwungen, wann immer meine Nägel zu lang wurden, die Handschuhe auszuziehen und mich dieser beleidigenden Wucherungen zu entledigen, ohne dabei meine Hände wirklich anzusehen. Bei einer dieser unerfreulichen Gelegenheiten, als ich in der Abgeschiedenheit des Umkleideraums tapfer meine Nägel schnitt und in einem Zustand größten Unbehagens vor Verzweiflung und Übelkeit laut stöhnte, wurde ich von einer Stimme abgelenkt, die folgende Frage stellte:
    Möchten Sie, dass ich Ihnen die Nägel schneide?
    Es war die Stimme des Wachsbildhauers, der mich bewusst und absichtlich angelächelt hatte. Ich versteckte die Hände hinter meinem Rücken und rief dem Bildhauer zu, er möge bitte wieder gehen. Aber er wollte nicht gehen, statt dessen sagte er: Ich könnte sie Ihnen schneiden, falls Ihnen das hilft. Kommen Sie mit nach oben. Dort habe ich ein paar schärfere Scheren.
    Ich kann nicht zulassen, daß jemand meine Hände sieht.
    Es wird nicht lange dauern, dann können Sie sie wieder bedecken.
    Aber es ist nicht erlaubt.
    Es geht Ihnen doch nicht gut. Es wird deutlich weniger schmerzvoll sein, wenn Sie mir erlauben, es zu tun.
    Aber jeder wird es

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