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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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völlig bedeutungslos.
    Der ganze Zweck des Wachsfigurenmuseums bestand darin, bis ins letzte Detail die menschliche Gestalt studieren zu können, nimm doch einmal eine Lupe und studiere die Unterschiede des menschlichen Kinns. Doch das sahen sie überhaupt nicht. In der Ausstellung war es möglich, etwas zu tun, was überall sonst völlig unmöglich war: sich der menschlichen Gestalt zu nähern, nahe genug, um sie zu berühren. Bei wie vielen Menschen auf dieser Welt trauen wir uns, mitten im Satz einzuhalten und zu sagen, Entschuldigen Sie, ich würde jetzt gerne Ihre Lippen untersuchen, könnten Sie bitte stillhalten? Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus. Es dürfte eigentlich nicht länger als zwanzig Minuten dauern. Halten Sie einfach still, damit ich sie ausgiebig anstarren kann. Bei wie vielen Menschen ist das möglich? Antwort: bei sehr wenigen. Selbst wenig zurückhaltenden Menschen ist es unangenehm, wenn sie intensiv angestarrt werden. Nur im Wachsfigurenmuseum, in diesem Menschenmuseum, konnte der Mensch wirklich und wahrhaftig untersucht werden.
Die vielen Hände des Francis Orme
    Ich war dermaßen beeindruckt von Williams Liebenswürdigkeit am Tag des ersten Nägelschneidens, daß ich ihn verschiedene Male besuchte, auch wenn gar keine Maniküre nötig war. William machte Andeutungen über diesen berühmten jungen (toten) Schauspieler, der Hände zu seinem Kopf benötigte. Der Schauspieler, deutete William an, war genauso alt wie Francis. Wirklich? Wie faszinierend. Ich denke, ich sollte jetzt wohl besser gehen.
    Ich besuchte William erst wieder, als meine Nägel eine für die Handschuhe gefährliche Länge erreicht hatten. Er lehnte es ab, sie zu schneiden, sofern ich ihm nicht erlaubte, einen Abdruck meiner Hände zu nehmen. Abgemacht? Nein, niemals. Ich denke, ich sollte jetzt wohl besser gehen.
    Erst als mir meine Handschuhe fast zu reißen begannen, kehrte ich widerwillig zu William zurück und ließ ihn einen Abdruck meiner Hände machen, damit er mir im Gegenzug dafür die Nägel schnitt.
    Ich sah die Wachsabdrücke meiner Hände nicht, nachdem sie fertig waren. Dies war die Bedingung dafür, daß sie in Gips gegossen würden. Sie mußten immer vor mir verborgen werden. Dies war natürlich möglich, solange die Hände in Williams Kabine aufbewahrt wurden, aber vollkommen unmöglich, sobald die Figur des jungen Schauspielers in die Ausstellung aufgenommen wurde.
    Als ich diese Hände das erste Mal sah, war ich angewidert, aber mit der Zeit störten sie mich immer weniger. Viel später, kurz bevor meine Anstellung im Wachsfigurenmuseum beendet wurde, berührte ich sie sogar einmal.
    Es war so sonderbar, all diese anderen Menschen zu beobachten, denen ich nie begegnet war, wie sie das Wachfigurenmuseum betraten, in dem meine nackten Hände ausgestellt waren. Natürlich registrierten die meisten Menschen meine Hände nicht, oder wenn doch, dann hatten sie nie mehr als nur einen kurzen Blick für sie übrig, aber das spielte auch keine Rolle. Die Tatsache, daß sie dort waren, die Tatsache, daß die Leute nicht auf sie zeigten oder sich vor Lachen bogen, die Tatsache, daß man sie für annehmbar, ja sogar normal hielt, verlieh mir ein gewisses Selbstwertgefühl. Doch zu diesem Zeitpunkt gab es bereits viele weitere Abdrücke meiner Hände überall in der ganzen Ausstellung. Meine Hände wurden nicht nur für
    männliche Figuren benutzt, sie schauten auch aus den Armein von Frauenkleidern hervor. Meine Hände, sagte William, seien nahezu makellos (man konnte auf ihnen noch einige Hinterlassenschaften aus Chirons Zeit finden), sie waren im Verhältnis zu meinem übrigen Körper ein wenig zu schmal, so als hätten sie aufgehört zu wachsen wie eine Pflanze, die zu lange kein Sonnenlicht bekommen hatte, sie seien zierlich, sagte er, sie wären perfekt für Frauen. Für die Männerhände wurden oft noch Haare hinzugefügt, echtes Menschenhaar, für die Frauen lange Fingernägel. Genaugenommen war es nicht William, der seine Modelle mit Haaren oder Nägeln oder Augen versah, denn dies war ein eigener Arbeitsschritt, der von anderen Abteilungen erledigt wurde. Mit der Zeit lernte ich alle Abteilungen kennen. Um die Haare kümmerte sich ein Zwillingspaar, Laura und Linda, für die Nägel war ein Mann namens Julian zuständig, für die Augen, mit Abstand die faszinierendste Abteilung, eine Frau namens Ottilia. Ottilia hatte Puppenaugen hergestellt, bevor sie im Wachsfigurenmuseum anfing, und ihre Augen waren

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