Das verlorene Observatorium
so lebensecht, daß ich überrascht war, wenn sie nicht blinzelten.
William war mein einziger echter Freund, und im Verlauf meiner Arbeit im Wachsfigurenmuseum kam ich ihm immer näher. Ich kam häufig in die obere Etage zu einer Tasse starken schwarzen Kaffees. Er war mein Freund, obwohl ich ihn in der Öffentlichkeit niemals so genannt habe. Auch erfuhr ch nichts über sein Leben außerhalb des Wachsfigurenmuseums. Ich fand zum Beispiel nie heraus, ob er verheiratet war oder Junggeselle, ob er Kinder hatte, ob er glücklich war mit seiner Arbeit. Natürlich war mir klar, daß er vorgab, meine Nägel schneiden zu wollen, um Gipsabdrücke meiner Hände machen zu können, daß er sie nicht aus einer altruistischen Neigung heraus geschnitten hatte, doch das spielte für mich keine Rolle. Genaugenommen hielt ich William für einen wahren Freund, weil wir uns gegenseitig brauchten. Ich konnte ihm vertrauen, er hatte mir keine Lügengeschichten aufgetischt, wie sehr er mich mochte, er hatte mir weder geschmeichelt noch mich beschwatzt, Gipsabdrücke meiner Hände anfertigen zu lassen. Und außerdem würde er nie irgendwelche persönlichen Gefälligkeiten von mir verlangen, würde sich nie an meiner Schulter ausheulen. Es war die geschäftsartige Natur unserer Freundschaft, die ich schätzte, fühlte ich mich doch in seiner Gesellschaft nützlich. Und auch wenn William häufig von oben herab mit mir sprach, über manche meiner Bemerkungen kicherte und aus Spaß den anderen Wachsbildhauern Geschichten über mich erzählte, war er nichtsdestoweniger mein einziger echter Freund. Er war der Mann, der meine Nägel schnitt.
Ein Beispiel, wie sich sehr sich ein echter Freund als ärgerlich erweisen kann
Als ich mich an diesem Tag mit William traf, um dem Erinnerungsdruck im Observatorium zu entgehen, zog er mir einfach einen Stuhl heran und nahm seine Schere heraus. Ich legte die Augenbinde an, er zog mir die Handschuhe aus und schnitt meine Nägel. Nachdem sie geschnitten waren, ich meine Handschuhe wieder angezogen und die Augenbinde abgenommen hatte, saßen wir noch, wie wir es uns zur Gewohnheit gemacht hatten, zusammen und tranken Williams starken schwarzen Kaffee.
Ich erlag dem Bedürfnis, mich mitzuteilen, und erzählte meinem einzigen wahren Freund von der schrecklichen Erfahrung, die ich gerade im Observatorium durchlebte. Ich erzählte ihm alles, was es über Miss Anna Tap zu erzählen gab.
Wie sieht sie aus?
Teigig, rundliches Gesicht, Brille. Spitze Nase.
Während ich sie beschrieb, begann William ihr Gesicht als Miniaturausgabe aus Ton zu modellieren, versuchte mit Gewalt, ihr Bild einzufangen. Wir bekamen heiße Köpfe bei dem Versuch, ihre Gesichtszüge zu bestimmen, bei dem Versuch, Williams Hände mit meinen Worten um die Stupsnase herumzuführen, um das rundliche Kinn, die hohe Stirn. Ich meinte, mich recht gut erinnert zu haben, aber der Kopf, den wir schließlich gemeinsam zustande brachten, besaß nur wenig Ähnlichkeit mit der echten Anna Tap.
Francis, seien Sie mir nicht böse, aber ich möchte Ihnen gern eine Frage stellen. Sie scheinen sehr viel über dieses Mädchen zu reden. Hätten Sie sie gern als ganz besondere Freundin, Francis?
Was meinen Sie damit?
Möchten Sie sie vielleicht in den Armen halten? Sie küssen?
Ich denke, ich sollte jetzt wohl besser gehen.
Ich verließ William, meine Tasse mit starkem schwarzem
Kaffee blieb halbvoll auf seinem Arbeitstisch stehen.
Zigarettenstummel
Auf dem Rückweg von William traf ich auf Anna Tap, die gerade die Kirche verließ. Ich beobachtete, wie sie über den Friedhof zum Observatorium zurückging. Ich folgte ihr in sicherem Abstand von einigen Metern und sammelte, sorgsam auf meine Handschuhe achtend, alle Zigarettenstummel auf, die sie im Gehen fallenließ. Als ich mich auf meinem Zimmer in Sicherheit befand, hatte ich nicht weniger als vier Lucky-Strike-Zigarettenstummel gesammelt. Ich breitete sie auf meinem Schreibtisch aus und numerierte sie auf ihren gelben Filtern. Ich hatte sie gesammelt, um Williams lächerliche Fragen zu beantworten, um herauszufinden, ob ich Anna Tap näher sein wollte oder nicht. Ich war natürlich überzeugt, daß dies absolut unmöglich sei, meinte aber, in diesem Punkt ganz sichergehen zu müssen. Ich betrachtete die Zigarettenstummel. Wollte ich diesen Zigarettenstummeln näher sein, die Anna Tap so nahe gewesen waren, die von Anna Tap sogar geküßt und gebissen worden waren? Nein, sagte ich mir, nein, das
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