Das verlorene Observatorium
müsse, da andernfalls rechtliche Schritte unternommen werden würden. Ich ignorierte den Brief, und fünf Tage später kam die Polizei ins Museum und nahm sie mit. Wer will sie haben, schrie ich die Polizisten an, wer außer mir hat sich je um sie gekümmert? Darum gehe es nicht, antworteten sie, die Statue gehöre nun einmal Tearsham Church. Und so fing ich an, regelmäßig herzukommen, sie vier- oder fünfmal wöchentlich zu besuchen, wobei ich jedesmal zu ihr um mein Augenlicht gebetet habe. Aber schon bald genügte das nicht mehr, ich mußte sie häufiger sehen, also zog ich um. Sie sieht wunderschön aus neben den anderen, finden Sie nicht?
Sehen Sie sich die Gruppe an, wie sie gerade in einer Linie nebeneinander stehen. Sie sehen einander nicht an, sie kommunizieren nicht. Früher war das so in der Kunst, doch dann änderte sich der Geschmack, und die Heiligen wurden so gemalt, daß sie sich untereinander und mit der Jungfrau unterhielten. Man nannte diese Art von Altarbild sacra conversazione, heilige Unterhaltung. Diese Gemälde umfaßten nicht selten auch den knienden Stifter des Altarbildes, seinen Auftraggeber. Manchmal stelle ich mir vor, wie sich diese hölzernen Heiligen miteinander unterhalten, nicht völlig isoliert leben. Und dann sehe ich mich selbst als eine Art Stifterin, die Lucias Segen erhält und plötzlich zu einem Teil des Altarbildes wird. Der Festtag der heiligen Lucia ist der dreizehnte Dezember, ein Tag, der früher als Wintersonnenwende gefeiert wurde, der kürzeste Tag des Jahres, die längste Nacht. Der blindeste Tag im Kalender. Seit ich Lucia begegnete, habe ich an jedem dreizehnten Dezember Kerzen vor ihr aufgestellt und sie angefleht, mir mein Augenlicht zurückzugeben. Ich spüre das Licht nur mehr aufgrund seiner Wärme, anstatt es zu sehen.
Noch hat sie mir nicht geholfen. Aber das wird sie, sie muß einfach. Und es wird in diesem Jahr sein, am dreizehnten Dezember, daß sie meine Augen rettet. Denn wenn es dann nicht passiert, wird es zu spät sein, ich werde erblinden, und meine Augen werden hart. Bringen Sie mich jetzt zu ihr, Pförtner, damit ich sie berühren kann.
Sie blieb etwas über eine Stunde bei Lucia und dann brachte sie der Pförtner zurück ins Observatorium. Auch ich verließ die Jungfrau, ihr Kind und die sechs Heiligen und kehrte zu meiner Ausstellung zurück.
Der Entleiher
Nachdem ich einige Stunden später den Tunnel hinter mir verschlossen hatte, stieg ich die Treppe hinauf zu Wohnung 6, wo Anna Tap vor der Tür auf mich wartete.
Francis? Francis, sind Sie das?
Warum lassen Sie mich nicht einfach in Ruhe?
Ich habe geklopft und geklopft.
Außer mir macht niemand die Tür auf, und ich war nicht da. Francis, ich möchte meine Brille zurück.
Dann sollten Sie sie wohl besser finden.
Ich glaube, ich weiß, wo sie ist.
Na, dann gehen Sie doch und holen sie.
Ist sie im Keller, Francis? Haben Sie sie dort versteckt? Ist das der Grund, warum Sie mich bei unserer ersten Begegnung unbedingt von der Kellertreppe forthaben wollten? Was bewahren Sie dort unten auf?
Dort ist noch die Wohnung des Pförtners und der Heizungsraum.
Ich könnte den Pförtner bitten, sich einmal gründlich dort unten umzuschauen.
Das würde ich nicht tun.
Ich wußte doch, daß sie dort unten ist!
... nicht, wenn Sie Ihre Brille zurückhaben wollen.
Holen Sie sie mir.
Das kann ich nicht.
Francis, wir machen ein Geschäft. Sie geben mir jetzt meine Brille zurück, und wenn ich wieder richtig sehen kann, dürfen Sie sie behalten.
Aber was ist, wenn Sie erblinden?
Ich werde nicht erblinden.
Aber wenn doch, darf ich sie dann trotzdem behalten?
Bitte, Francis.
Wenn Sie es versprechen.
Ich kann ohne sie nicht sehen.
Das ist nicht üblich. Ich habe noch nie zuvor ein Exponat der Ausstellung als Leihgabe fortgegeben. Ich weiß nicht, ob so etwas zulässig ist. Versprechen Sie mir, die Brille zurückzugeben, nachdem Sie erblindet sind?
Ja.
Nun, lassen Sie uns überlegen. Was meinen Sie, wie lange wird es dauern, bis Sie völlig erblinden? iCH WEISS ES NICHT!
Ungefähr?
Einige Monate, aber ich werde nicht erblinden.
Einige Monate? Eine Leihgabe über eine nicht näher spezifizierte Anzahl von Monaten. Nun, ich würde dieses Geschäft ja in Erwägung ziehen. aber Sie haben mich als zurückgeblieben beschimpft. Das hat mir ganz und gar nicht gefallen.
Ich habe es nicht so gemeint.
So ist es schon besser. Aber genügt das?
Ich könnte den Pförtner rufen.
Also abgemacht.
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