Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
Urgroßvater gestiftet worden, einem anderen Francis Orme. Er stieß bei einer seiner Reisen auf das hölzerne Altarbild (so lautet zumindest die betreffende Anekdote in einem Band der Geschichte der Ormes). Unter beträchtlichen Schwierigkeiten und mit noch beträchtlicheren Mitteln gelang es ihm, es unter der Bedingung zu erwerben, daß es immer auf heiligem Boden stehen müsse. Mein Urgroßvater übergab es Tearsham Church. Die Jungfrau, wie ich annehme, damals noch nicht kahl, besaß eine, so glaubt man, außergewöhnliche Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Frau. Er saß früher immer vor der hölzernen Mutter Gottes, hing dabei wahrscheinlich nicht unbedingt himmlischen Gedanken nach und verwechselte sie mit der Mutter seines Sohnes, einem weiteren Francis Orme. Eines Tages fand man dann meinen Urgroßvater nackt auf dem Schoß der Heiligen Jungfrau. Deren Sohn lag auf dem Boden von Tearsham Church, nachdem er gewaltsam von seinem angestammten Platz entfernt worden war. Meine Urgroßvater versuchte, die hölzerne Jungfrau zu begatten. Er beschloß seine Tage in einer Krankenhauszelle. Nach einiger Zeit trafen der Pförtner und Anna Tap ein. Versteckt hinter dem Grabmal eines toten Orme belauschte ich sie.
    Was sehen Sie?
    Hölzerne Menschen. Wer ist der mit den Schlüsseln?
    Der heilige Petrus, der Torhüter des Himmels.
    Auch ein Pförtner?
    Der heilige Pförtner. Beschreiben Sie mir den letzten Heiligen ganz links.
    Es ist eine junge Frau, Miss Tap.
    Das ist die heilige Lucia. Was hält sie in der Hand?
    Einen Teller.
    Was befindet sich auf dem Teller?
    Ein Paar Augen.
    Wegen dieser Augen bin ich hier. Ich kümmere mich nun schon seit Monaten um die heilige Lucia. Als ich sie das erste Mal sah, war sie wie die anderen, sie sah krank und mitgenommen aus, überall blätterte ihre Farbe ab, sie war übersät mit Rissen und Flecken. Ich sollte die Kleidung und die Haare von allen Heiligen herrichten. Es war ein Auftrag des Stadtrats, unsere Kirchen und alles, was sich in ihnen befindet, zu konservieren. Aber dann wurde bekannt gegeben, dass diese Kirche hier zukünftig nicht mehr benutzt würde und die Mittel wurden gestrichen. Für mich war es allerdings zu spät, denn die heilige Lucia hatte begonnen, mich zu faszinieren. Nachts träumte ich von ihrem traurigen Gesicht. Ich glaubte, sie riefe nach mir. Ich ging in die Bibliothek und schlug ihre Geschichte nach. Ich fand alles über sie heraus, was es zu wissen gibt.
    Die Krankheit meiner Augen macht mir bereits seit vielen Jahren zu schaffen, ich wurde von Optiker zu Optiker, von einem Augenarzt zum nächsten geschickt. Sie bliesen mir Luft in die Augen, spritzten Farbstoff hinein, setzten Injektionen und operierten sogar, aber meine Augen verbesserten sich nicht. Meine Augen würden, so sagten sie mir voraus, hart werden, würden fest werden und schließlich ihre Sehkraft verlieren. Also meinte ich, daß die heilige Lucia aus einem bestimmten Grund zu mir gekommen war. Sie ist die Schutzheilige der Augenkranken. Da sie zwei Paare besitzt, eines auf dem Teller und eines in ihrem Kopf, dachte ich, sie könnte mir vielleicht eines ausleihen. In den Büchern stand, daß sich ein Ungläubiger in Lucias Augen verliebt hatte und sie anflehte, ihn zu heiraten. Lucia lehnte ab und der Mann ließ ihr daraufhin die Augen herausreißen. Aber wie durch ein Wunder wuchs ihr sofort ein neues Paar nach.
    Ich beschloß, die heilige Lucia zu restaurieren, sie in ihren Originalzustand zurückzuversetzen. Über Monate blieb ich nach Feierabend noch in der Werkstatt und behandelte ihre Kleider, kaufte neues Material, wo es nötig war. Ihre Haare waren so spröde und zerbrechlich, daß sie ersetzt werden mußten. Ich setzte eine Annonce in die Zeitung: HABEN SIE LANGES BLONDES HAAR? Wären Sie bereit, es zu verkaufen? Bitte setzen Sie sich in Verbindung mit. Viele Menschen antworteten, die meisten waren ungeeignet, aber unter ihnen war ein Mädchen mit so schönen langen, goldgelben Haaren, daß ich sie beinahe für die lebendige Lucia hielt. Sie trug ein kleines goldenes Kreuz um den Hals. Ich bezahlte sie gut, sie ließ sich das Haar kurz schneiden. Nachdem ich es abgeholt hatte, nähte ich es Strähne für Strähne zusammen. Ich bezahlte einen Restaurator aus dem Museum, damit er ihre Augen und ihre Haut wieder lebendig machte. Aber dann erhielt ich einen Brief, der mich in Kenntnis setzte, daß Lucia Eigentum der Kirche sei und ich sie innerhalb von vier Tagen zurückbringen

Weitere Kostenlose Bücher