Das verlorene Observatorium
Privatkapelle der Familie Orme, getrennt vom Rest der Kirche durch ein hohes Gitter mit Zierspitzen und ein Schloß, zu dem nur ich und der Priester einen Schlüssel besaßen.
Seit einiger Zeit schon wurde die Kirche vernachlässigt. Nur wenige Menschen kamen noch her, ich selbst war auch schon seit Monaten nicht mehr hier gewesen. Der Priester mußte sich um vier weitere Kirchen kümmern und hielt die Gemeinde, die einst Tearsham hieß, für seine unbedeutendste. Gottesdienste waren hier schon seit einigen Jahren nicht mehr gefeiert worden, und der langsame Verfall der Kirche hatte eingesetzt. Manche der Kirchenfenster waren eingeworfen und mit Brettern vernagelt worden, doch die Tauben schafften es dennoch herein, vielleicht durch den Glockenturm, und waren sie erst einmal drin, konnten sie nicht mehr heraus. Überall entleerten sie ihren Darm. Sie starben in den Ecken, und ihre Kadaver ermunterten die Ratten. Der Müll aus der Stadt hatte sich Zutritt verschafft. Papier von Süßigkeiten, rostende Dosen, vergilbte Zeitungen.
Alle der einst zahlreichen Kirchengemälde und Wandteppiche waren schon vor langer Zeit aus den verschiedenen Seitenkapellen entfernt worden, zusammen mit dem Altar, den Kerzenständern, dem Kelch und sogar den Kirchenglocken. Jetzt waren nur noch die staubbedeckten Bänke, die defekte alte Orgel und das sperrige, morsche, häßliche Altarbild der Kirche übrig.
Das Altarbild bestand aus acht überlebensgroßen Holzfiguren. Eine Madonna. Ein Kind. Sechs Heilige. Die Madonna saß mit dem Christuskind auf dem Schoß auf einem Thron und hatte jeweils drei Heilige zu ihrer Linken und zu ihrer Rechten. Diese Holzmenschen waren wie Puppen angezogen worden, sie trugen Kleider: echte Kleider, die sich in einem Zustand fortgeschrittenen Zerfalls befanden, verschossen, von Motten zerfressen, an manchen Stellen waren sie von den Körpern gerutscht und lagen nun in merkwürdig aussehenden Haufen unter den Figuren auf dem steinernen Boden der Kirche. Die hölzernen Arme, Hände und Gesichter dieser Helden früherer Zeiten waren einmal fleischfarben angemalt gewesen. Ein großer Teil der Farbe hatte jedoch begonnen abzublättern, was den Eindruck vermittelte, als würden die Märtyrer erneut zu Tode gemartert, in ihren verschiedenen Posen der Glückseligkeit bei lebendigem Leib gehäutet. Einige der Heiligen hatten einmal echtes Menschenhaar auf dem Schädel gehabt, gleichwohl vieles davon im Laufe der Zeit ausgefallen war, die Jungfrau Maria war fast kahl. Die Heiligen waren, von rechts nach links: die heilige Katharina von Alexandrien mit dem Instrument ihres Martyriums, einem Rad; der heilige Thomas von Aquin, der ein Buch umklammerte, die Summa theologicae; der heilige Stephanus, der erste Märtyrer, der gesteinigt wurde, hielt große, scharfkantige Steine in Händen; der heilige Petrus trug die mit drei goldenen Kronen geschmückte Mitra des Papstes und hatte zwei Schlüssel in der Hand; Franziskus, dieser hölzerne Francis, nicht ich, hatte die Hände gefaltet und richtete den Blick zum Himmel, hatte wahrscheinlich Halluzinationen über einen Spatz oder Buchfink. Der heilige Franziskus trug keine Gegenstände, verachtete er doch jeglichen irdischen Besitz. Dieser unterernährte Mann trug große Blasen in der Mitte seiner Hände und Füße, seine Wundmale (jedes mal, wenn ich nach Beginn meiner Handschuhzeit die Kirche besuchte, sehnte ich mich danach, ein Paar weiße Handschuhe über Franziskus' gezeichnete Hände zu ziehen). Und schließlich war da noch die heilige Lucia, die einen Holzteller hielt, auf den zwei Holzaugen geleimt waren. Von der Gruppe befand sich lediglich Lucia in einem halbwegs guten Zustand. Sie allein besaß noch volles Haar, das ihr über die Schultern fiel, sie allein besaß glaubhaftes, intaktes Fleisch, sie allein war noch vollständig bekleidet, und ihre Kleidung hatte, was höchst ungewöhnlich war, ihre ursprüngliche Farbe bewahrt, wirkte sogar sauber und neu. Jeder, der die Kirche nicht kannte und sie zum ersten Mal betrat, mochte Lucia zunächst für einen echten Menschen halten, wenn auch in einem bizarren Kostüm. Wenn sie sich dann aber nicht bewegte, wurde man irgendwann mißtrauisch, ging zu ihr und sah dann ihre Nachbarn. Ihre vergammelten, verunstalteten Nachbarn, die unter einem solchen Wurmbefall zu leiden hatten, daß sie wie Leprakranke aussahen, wie monochrome Geister in ihren verschossenen und schmuddeligen Kleidern.
Das Altarbild war von meinem
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