Das verlorene Regiment 02 - Jenseits der Zeit
die Treppe hinabzusteigen, drehte sich dann aber noch mal zu Vincent um.
»Dieses Telegramm enthält auch eine klare Drohung. In diesem Punkt hatte Petronius Recht, wissen Sie?«
»Ich sehe das ganz anders«, entgegnete Vincent gelassen.
»Na ja, er sollte lieber hier auftauchen, oder wir alle werden es teuer bezahlen müssen«, sagte Marcus und setzte seinen Weg fort.
Vincent wandte sich ab und beugte sich über die Zinnen, um die Linien der Carthas zu betrachten, die vom letzten Licht des Tages Übergossen wurden. Ein schimmerndes Leuchten überspülte den westlichen Horizont. Vincent fand, dass er der Sonnenuntergänge auf diesem Planeten niemals überdrüssig werden konnte, wenn die große rote Sonne die Dämmerung in wirbelnde Pastellfarben verwandelte.
Na ja, heute hatte er eine weitere Fähigkeit erworben, die ein Botschafter beherrschen musste – überzeugend zu lügen. Er hatte einen Augenblick gebraucht, um die Botschaft zwischen den Zeilen zu erkennen, während Petronius und all die anderen sie sofort gesehen hatten. Kal hatte deutlich gemacht, dass es sie teuer zu stehen kommen würde, falls sie kapitulierten. Vincent konnte die militärische Logik erkennen, wenn Roum gezwungen wurde, auf der Seite von Rus zu bleiben. Falls Roum nämlich die Seite wechselte, dann entstand dadurch womöglich ein unversöhnlicher Feind an der Ostgrenze, der jede Hoffnung auf die vorbestimmte Ausbreitung der Demokratie zunichtemachte, ehe sie richtig in Gang gekommen war. Die Welt der Menschen würde gespalten bleiben, und letztlich würden die Tugaren oder die Merki oder irgendeine der übrigen Horden das ausnutzen und Rus in die Knie zwingen.
Also musste man Marcus an der Macht halten, und Vincent war sich klar, dass er nun der Makler dieser Macht war. Das Opfer des Fünften Regiments und seine eigenen Taten auf dem Schlachtfeld hatten Marcus’ Herz berührt; etwas in ihm hatte sich verändert. Vincents mit Bedacht geäußerte Feststellung, Rus würde jede Revolution in Roum verhindern, hatte den Vertrag offenkundig besiegelt. Ihm blieb nur die Hoffnung, dass dieses Versprechen ihn nicht noch im Traum verfolgen würde, falls sich Marcus später als stur erwies, was irgendeine Hoffnung auf soziale Veränderung anging.
Das versprach ein heikler Balanceakt zu werden, eine weitere Last auf seinen Schultern, zusätzlich zum Rätsel dessen, was Tobias hier heute angerichtet hatte.
Ein Lichtblitz leuchtete auf der Erhebung dort drüben auf, fast gleich gefolgt von einem zweiten.
»Der Dreckskerl!«, flüsterte Vincent.
Die Sekunden verstrichen, und als das ferne Donnern der beiden schweren Kanonen heranrollte, drang auch ein schrilles Heulen durch die Luft. Eine Fontäne aus Erde platzte hundert Meter weit links von Vincent vor der Stadtmauer aus dem Boden. Im gleichen Augenblick lief eine betäubende Erschütterung durch die Mauer, und Vincent sah eine Mauersektion von fast zwei Metern Breite in die Luft springen, eingehüllt von einer Wolke aus Staub und zerschmetterten Steinen.
Panikschreie stiegen von der Mauer auf, begleitet vom fernen Jubel der Carthas.
»Verdammt, er sollte lieber in acht Tagen hier sein!«, schrie Dimitri, der gerade wieder heraufgestiegen kam und sich zu Vincent gesellte.
»Wir halten durch, bis Entsatz eintrifft«, beruhigte ihn Vincent und musterte den alten Mann neben sich. Er sah, dass seine Worte diesen aufmunterten. Wie seltsam, dachte er. Heute Morgen noch habe ich in seinen Armen geschluchzt, und jetzt sucht er Kraft bei mir!
Allmählich legte sich das Geschrei wieder, und Stille breitete sich über das Schlachtfeld.
»Wissen Sie, es ist schon seltsam«, sagte Dimitri. »Diese ganze Sache.«
»Inwiefern?«
»Sie hatten uns an der Gurgel, und dann ließen sie uns entkommen.«
Vincent nickte.
»Und das Telegramm, Sir. Ihre Truppen haben die Telegrafenleitung schon vor Stunden erreicht, aber sie haben sie erst gekappt, nachdem diese letzte Mitteilung durchgekommen war. Man sollte eigentlich erwarten, dass sie die Leitung sofort kappen, damit sowohl wir als auch der Präsident über die Ereignisse hier im Dunkeln blieben.«
»Weißt du, daran habe ich noch gar nicht gedacht«, räumte Vincent ein. Wieder ein Stück, das nicht passte. Hans hatte ihm erklärt: der halbe Sieg liegt in der Fähigkeit, die Gedanken des Feindes zu ergründen, wie er zu denken, in seinem Verstand zu leben und zu schlafen.
Erneut setzte er das Fernglas an, um im schwindenden Licht der Dämmerung aufs
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