Das Verlorene Symbol
darauffolgenden Frühjahr in der ersten Reihe, als gut fünfhundert Studenten in das Sanders-Theater strömten, einen altehrwürdigen, mit knarzenden Holzbänken ausstaffierten Hörsaal der Harvard University.
»Guten Morgen allerseits«, rief Langdon vom großflächigen Podium in die Runde. Er schaltete einen Diaprojektor an, und hinter ihm erschien ein Bild. »Während Sie sich setzen, möchte ich Sie fragen: Wer von Ihnen erkennt das Gebäude auf diesem Bild?«
»Das Kapitol!«, erklangen Dutzende von Stimmen gleichzeitig. »Washington, D.C.«
»Richtig. In dieser Kuppel stecken über viertausend Tonnen Schmiedeeisen. Für die 1850er-Jahre ein unvergleichliches Meisterwerk architektonischer Baukunst.«
»Cool«, rief jemand.
Langdon verdrehte die Augen und wünschte sich, jemand würde solche Worte endlich verbieten. »Wie viele von Ihnen waren schon einmal in Washington?«
Vereinzelt wurden Hände gehoben.
»Mehr nicht?« Langdon tat überrascht. »Und wie viele von Ihnen waren bereits in Rom, Paris, Madrid oder London?«
Diesmal hoben fast alle im Saal die Hand.
Wie üblich. Zum Initiationsritus der amerikanischen College-Studenten gehörte unweigerlich ein Sommeraufenthalt mit einem Interrailticket in Europa, bevor der blutige Ernst des Lebens begann. »Es sieht ganz so aus, als hätten mehr von Ihnen Europa besucht als die Hauptstadt der Vereinigten Staaten. Wie kommt das? Was meinen Sie?«
»In Europa gibt's keine Altersbeschränkung für Alkoholverkauf!«, rief jemand aus der letzten Reihe.
Langdon lächelte erneut. »Als würde das hiesige Verbot irgendjemanden davon abhalten, sich einen hinter die Binde zu kippen, wenn ihm danach ist …«
Alle lachten.
Es war der erste Vorlesungstag, und die Studenten brauchten länger als sonst, um ihre Plätze zu finden und sich einzurichten. Die Holzbänke knarzten und quietschten pausenlos. Langdon genoss es, seine Vorlesungen in diesem Hörsaal zu halten, weil er schon am Geräusch erkannte, ob seine Zuhörer aufmerksam waren oder nicht.
»Ernsthaft«, meinte er. »Washington zählt zu den Städten mit der weltweit schönsten Architektur. Es gibt bedeutende Kunstwerke und unzählige Symbole. Warum also in die Ferne schweifen, statt die eigene Hauptstadt zu besuchen?«
»Die Bruchbuden in Europa sind cooler«, rief jemand.
»Mit ›Bruchbuden‹«, stellte Langdon klar, »meinen Sie vermutlich Burgen, Grabgewölbe, Tempel und Ähnliches?«
Allgemeines Nicken.
»Okay. Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen verrate, dass Washington dies alles zu bieten hat? Burgen, Grabgewölbe, Pyramiden, Tempel …«
Das Quietschen der Bänke wurde leiser.
»Freunde«, fuhr Langdon fort, wobei er die Stimme senkte und an den Rand des Podiums trat, »in der nächsten Stunde werden Sie erfahren, dass die USA eine Fülle von Geheimnissen zu bieten hat, und dass vieles von ihrer Historie im Verborgenen schlummert. Und genau wie in Europa sind die interessantesten Geheimnisse so versteckt, dass sie im Grunde für jeden deutlich zu sehen sind.«
Nun knarzte keine einzige Bank mehr. Jetzt habe ich euch.
Langdon verdunkelte die Beleuchtung und projizierte das zweite Bild an die Wand. »Wer von Ihnen kann mir sagen, was George Washington hier tut?«
Alle blickten auf die Projektion eines berühmten Wandgemäldes, das George Washington in vollem Ornat mit Freimaurerschürze vor einer merkwürdig aussehenden Vorrichtung zeigte – einem gewaltigen hölzernen Dreibein mit einem Flaschenzug, an dem ein massiver Steinquader hing. Um Washington herum stand eine Gruppe elegant gekleideter Zuschauer.
»George Washington hebt mit dieser Vorrichtung den Steinbrocken hoch …?«, riet jemand.
Langdon schwieg, während er darauf wartete, dass einer der Studenten – falls möglich – eine bessere Antwort parat hatte.
»Ich glaube eher«, meldete sich ein anderer Zuhörer, »dass Washington den Stein hinabsenkt. Er trägt eine Freimaurerschürze. Ich habe schon andere Bilder von Freimaurern bei Grundsteinlegungen gesehen. Bei der Zeremonie wurde jedes Mal ein solches Dreibein benutzt, um den ersten Stein abzusenken.«
»Ausgezeichnet«, sagte Langdon. »Das Wandgemälde zeigt die Gründerväter unseres Landes, wie sie am 18. September 1793 zwischen 11.15 Uhr und 12.30 Uhr mit einem Dreibein und einem Flaschenzug den Grundstein für das Kapitol legen.« Langdon hielt inne und ließ den Blick durch den Saal schweifen. »Kann mir jemand sagen, was dieses Datum und diese
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