Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
konnte: »Ich … wir …« Die junge
Frau zuckte die Achseln und schob das Obst auf ihrem
Teller herum. »Wir sind diesen Kindern nicht so nahe,
wie wir es bei Caelum gewesen sind.« Die letzten Worte
kamen nur noch als ein Flüstern heraus. Sie hatte die
Augen niedergeschlagen, und ihre Wangen hatten sich
gerötet. So sehr schämte sie sich dafür, zugeben zu
müssen, daß sie ihre eigenen Kinder nicht liebte.
Doch sie mußte sich keine Vorwürfe machen, denn
Sternenströmer verstand ihre Lage nur zu gut. Jeden Tag
hatte er nun einige Stunden damit zugebracht, die
Zwillinge in den Fertigkeiten der Zauberer zu unterrichten. Obwohl die beiden erfreulich bereitwillig auf seine
Bemühungen eingingen, blieb ihm doch nicht verborgen,
wie feindselig und bestenfalls gleichgültig sie sich
oftmals ihrer Mutter gegenüber verhielten.
Wenn er tags und nachts soviel Ablehnung in sich
tragen müßte, sagte sich der Ikarier, würde es ihm sicher
auch schwerfallen, solche Kinder zu lieben. Sternenströmer konnte sich keinen Reim darauf machen, warum der
Junge und das Mädchen ihren Eltern mit soviel Kälte
begegneten, ihren Großvater aber eigenartigerweise zu
mögen schienen. Seltsam, denn er hatte sich doch ebenso
sehr wie Axis schuldig gemacht, Aschure zu Unrecht zu
verdächtigen und mit aller Gewalt die Wahrheit aus ihr
herauszupressen. Seitdem war die Ablehnung der
Zwillinge deutlich zutage getreten. Aber warum mochten
sie dann ihre Mutter nicht? Etwa deswegen, weil sie
ihren Vater immer noch liebte und ihm das angetane Leid
längst vergeben hatte?
»Aschure, die beiden brauchen Namen. Mir fällt es
nicht leicht, sie in diesem spätem Schwangerschaftsstadium zu unterrichten, ohne sie mit einem Namen anreden
zu können.«
Die junge Frau hob den Kopf und sah ihn an. »Dann
sucht Ihr einen für sie aus.«
»Ich? Aschure, von jeher ist es das Vorrecht der
Eltern …«
»Gebt Ihr ihnen lieber Namen«, verlangte sie entschieden. »Von mir würden sie sie ja sowieso nicht
annehmen.«
»Und Ihr erklärt Euch dann auch sicher mit meiner
Wahl einverstanden?«
Aschure nickte.
»Na gut, dann …« Sternenströmer hatte die Ungeborenen mittlerweile recht gut kennengelernt und wußte,
welche Namen zu ihnen passen würden. »Eure Zwillinge werden sich zu mächtigen Zauberern entwickeln, und
das sollte in ihrem Namen auch zum Ausdruck kommen. Gleichwohl sollen sie aber auch einen Zug ihrer
Persönlichkeit widerspiegeln.« Der Vogelmann holte
tief Luft und teilte der Schwiegertochter dann seine
Wahl mit.
Die junge Frau fuhr zurück, als sie seinen Vorschlag
für den Knaben vernahm. »Aber das ist ein so mächtiger
Name«, hauchte sie, und ihre Hand fuhr wie aus eigenem
Antrieb zu ihrem Bauch, »selbst für einen männlichen
Zauberer. Seid Ihr Euch auch ganz sicher?«
Sternenströmer nickte, und so senkte Aschure zum
Zeichen ihres Einverständnisses langsam ihren Kopf.
Kein Wunder, daß ihr solcher Nachwuchs Unbehagen
bereitete.
Sie zogen nicht in einer feierlichen Prozession zum
Tempel. Ein jeder schritt nur schweigend über die
Avenida, bis sich schließlich eine Menge von acht- bis
neuntausend Menschen auf den grasbewachsenen Hügeln
rings um den Marmorkreis versammelt hatte. Viele
stammten aus Piratenstadt. Fünf Schiffe voller Edler und
Bürger aus Nor hatten im Hafen angelegt. Und zu diesen
gesellten sich noch einige Hundert Ikarier, die im Verlauf
der vergangenen Wochen zur Insel gekommen waren.
Aschure stand mit Caelum auf dem Arm in der Mitte
des Tempelkreises. Sie trug nur ein leichtes lavendelblaues Gewand; denn selbst hier oben war es für die
Jahreszeit immer noch angenehm mild.
Die junge Frau hatte keine Ahnung, was sich nun als
nächstes ereignen würde.
Sie stand mit ihrem Sohn allein da. Sternenströmer
unterhielt sich gerade am Rand des Kreises leise mit
einem anderen Zauberer. Freierfall und Abendlied
befanden sich in der ersten Reihe der vielen, die von
außerhalb des Kreises zusahen. Als Ikarier, die über
keine Zaubergaben verfügten, würden sie bei der
Wiedererleuchtung des Tempels keine Rolle spielen.
Und was habe ich hier verloren? fragte sich Aschure.
Mich kann man doch kaum als richtige Zauberin
ansehen, vermag ich doch meine Fähigkeiten kaum
bewußt und gewollt einzusetzen. Sie hatte ihre Magie
zwar in jener Nacht eingesetzt, in der sie mit den Ersten
gesprochen hatte. Aber sie wußte noch immer nicht, wie
ihr das möglich gewesen war – außer daß ihre
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