Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
sich nun überall
aus, auch unter den Tausenden auf den Hängen. Eine
solche Stille herrschte, daß die junge Frau sogar das leise
Brechen der Wellen unten an der zerklüfteten Küste
hören konnte.
Aschure? Aschure? Seid Ihr es?
Über ihnen glitten die Sterne über den Himmel.
Ihr Schwiegervater schritt weiter den Kreis ab, aber
jetzt langsamer und mit gesenktem Haupt. Nur die Flügel
hielt er weiterhin ausgebreitet. Seine Bewegungen
führten ihn immer näher ins Zentrum.
Aschure vernahm erst jetzt, daß die Zauberer sangen.
Worte und Melodie erklangen so leise, daß sie weder das
eine noch das andere genauer unterscheiden konnte. Die
junge Frau erkannte nur, daß die Vogelmenschen ihre
Weise in der heiligen Sprache der Ikarier sangen. Eine
fließende Musik, die sich spielerisch mit dem Ruf der
Wellen verband. Zum ersten Mal seit Monaten spürte
Aschure wieder belebende Energie ihren Körper durchströmen. Sie atmete tief durch und fand zu einem
Lächeln.
Caelum schaute ehrfürchtig zu seiner Mutter hinauf.
Sternenströmer schritt nun schon fast träge auf sie zu.
Den Kopf hielt er immer noch gesenkt, aber die junge
Frau erkannte, daß er die Augen geschlossen hatte. Als
einziger sang er nicht, sondern schien zu lauschen. Die
Hände an seinen Seiten schlossen und öffneten sich
wieder, und die Muskeln an seinen Schultern und an
seinem Rücken zuckten.
Das Lied der Zauberer nahm an Eindringlichkeit zu
und rührte die Zuhörer noch mehr an. Caelum wie auch
seine Mutter erbebten unter der Kraft dieses Gesanges,
und über ihnen verschwammen die Sterne am Himmel.
Sternenströmer blieb hinter den beiden stehen, und für
Aschure vollkommen unerwartet, packte er mit beiden
Händen ihre Schultern. Dazu stieß er einen lauten Schrei
aus, der neue Wogen von Energie durch sie hindurchjagte.
Die junge Frau schnappte nach Luft und wäre vermutlich
umgefallen, wenn ihr Schwiegervater sie nicht gehalten
hätte. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, daß er nun in
voller Größe dastand, den Kopf in den Nacken geworfen
hatte und hinauf ins Himmelszelt starrte.
Der Zauberer schlug heftig mit seinen Schwingen, und
für einen Moment kam Aschure in den Sinn, daß er am
Ende versuchen wolle, sich zusammen mit ihr und
Caelum in die Lüfte zu erheben.
Aber dann fiel ihr eine Bewegung am Kreisrand auf,
und darüber vergaß sie Sternenströmer sofort. Jeder
einzelne der ikarischen Zauberer hatte die Schwingen
ausgebreitet, und zwar dergestalt, daß die Flügelspitzen
die der anderen Nachbarn berührten. Auch sie hatten wie
Sternenströmer den Kopf in den Nacken gelegt und dazu
in höchster Glückseligkeit die Hände zum Himmel
erhoben.
Und nun fing auch Sternenströmer an zu singen.
Aschure hatte ihn schon bei früheren Gelegenheiten
singen gehört, vor allem auf der Großen Ratssitzung im
Krallenturm, aber selbst da hatte er seine Stimme noch
nicht zu ihrer vollen Schönheit erblühen lassen.
Nun aber bekam die junge Frau alles zu hören, was in
seiner Stimme steckte. Die eindringliche Lieblichkeit
seines Gesangs wühlte ihr Innerstes auf, aber dann schrie
sie, weil sich seine Finger noch tiefer in ihre Schultern
bohrten. Seine Energie schien in einem Fluß auf sie
überzugehen. Am Rand ihres Bewußtseins erkannte
Aschure, daß er sie nur aus einem Grund fester packte:
um ihnen in dem Tosen der Macht, die er nun freisetzte,
einen sicheren Stand zu verleihen.
Die junge Frau fühlte, wie seine Kraft sie umhüllte
und durchdrang. Hinzu kam sein Lied, das sie körperlich
zu ergreifen und hinaufzutragen schien. Dann spürte sie
mehr, als sie es hörte, wie die anderen Zauberer seine
Weise aufnahmen und ihre eigene Energie über den
Marmorkreis schickten.
Aschure stöhnte, befürchtete sie doch, nicht die Kraft
zu besitzen, es noch länger auszuhalten.
Und just in dem Moment, in dem sie glaubte, am
Ende ihrer Kraft zu sein, hörte der Gesang plötzlich auf.
Nur die Zaubererenergie strömte weiterhin über das
Rund.
»Wartet«, flüsterte ihr Schwiegervater rauh. »Wartet
… so wartet doch …«
Dann lachte er befreit, ließ die junge Frau los und
drehte sich leichtfüßig wie eine Feder auf dem Kreis.
»Spürt Ihr es?« jauchzte er. »So spürt es doch!«
So rasch, wie er sie verlassen hatte, stand er wieder
hinter ihr. Doch diesmal faßte er sie nicht an.
»Spürt es!« forderte er seine Schwiegertochter noch
einmal mit ruhigerer Stimme auf.
Und jetzt fühlte Aschure etwas. Ein Prickeln auf den
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