Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
gesellte sich allgemein zu den Vergnügungsfeiern
zwischen den Bäumen.
Rabenhorst, der Krallenfürst der Ikarier, verbeugte
sich ehrfürchtig vor dem Erdbaum und verließ dann den
Feuerkreis, dessen Flammen nur noch flackerten und
dann erloschen.
Da kam ein Fernaufklärer aus dem Wald, und Rabenhorst blieb sofort stehen. Der Luftkämpfer wirkte, als
habe er einen langen und anstrengenden Flug hinter sich,
und seine Flügel hingen schlaff herab. Doch seine Augen
strahlten immer noch über die große Bedeutung seiner
Aufgabe und seiner Botschaft.
»Krallenfürst!« Der Aufklärer salutierte vor ihm, obwohl er sich nur noch mit Mühe aufrecht halten konnte.
»Ja, Mann, was gibt es denn?« Rabenhorst hatte gelernt, das Erscheinen übermüdeter und weitgeflogener
Boten zu fürchten.
»Fürst, ich bringe Euch Nachricht von der Zauberin.«
»Heraus damit!«
»Die Zauberin schickt Euch vom Tempelberg eine
dringende Aufforderung: Ihr müßt unverzüglich alles
Volk aus dem Krallenturm fortführen. Diejenigen Ikarier,
die nicht den ganzen Weg bis in den Süden zu fliegen in
der Lage sind, dürfen auf keinen Fall über die Eisfelder
zum Nordra aufbrechen. Aschure sagt: ›Diese müssen
hinunter zu den Wasserkanälen und den Fährmann mit
Bitten, Flehen oder Bestechung dazu bewegen, sie in
seinem Kahn in den Süden zu bringen.‹«
»Was? Hat die Zauberin den Verstand verloren? Wie
soll ich denn den gesamten Krallenturm evakuieren? Für
wen hält Aschure sich eigentlich, mir so etwas zu
befehlen?«
»Fürst, die Zauberin trug mir mit der allerhöchsten
Dringlichkeit auf, Euch diese Botschaft zu überbringen.
Sie fürchtet nämlich, daß Gorgrael bald zuschlägt.«
»Unfug! Die Skrälingshorden des Zerstörers stehen
viele Meilen weiter im Westen. Warum sollten sie …«
»Fürst!« unterbrach ihn der Fernaufklärer erregt. »Die
Zauberin fürchtet weniger die Geisterkreaturen als
vielmehr die Greifen! Dem Zerstörer stehen Abertausende Himmelsbestien zur Verfügung. Ich hörte auch, daß
diese Wesen weit im Westen Verheerung über die Armee
des Sternenmannes gebracht hätten. Besonders unsere
Luftarmada hatte unter ihren Angriffen zu leiden.
Deswegen vernehmt nun meine Worte …«
Rabenhorst lauschte nun und wurde immer blasser.
Stiefel und Handschuhe aus dem gleichen Material lagen
auf dem Bett bereit, und Aschure zog beides an. Sie hörte
den Wind ihren Namen rufen, vernahm sein Flüstern von
jenseits des Nebels und spürte den Sog der Gezeiten,
während sie an die Gestade Tencendors schlugen … aber
die junge Frau widerstand dem Drang, ihrer Ungeduld
und dem Locken zu willfahren …
Axis!
… der Abschied stand bevor. Aschure schritt zu der
Tür zum Hauptgemach, nahm den Wolfen an sich und
schwang sich im Gehen den Köcher mit den blaugefiederten Pfeilen über die Schulter.
Auf einen Umhang verzichtete sie aber, denn sie
würde ihn nicht benötigen.
Während sie eiligen Fußes voranschritt, stiegen hinter
den Stühlen, an den Wänden und vor der Feuerstelle
Schatten auf, die sich an ihre Fersen hefteten.
Die Zeit des schnellen Laufs war gekommen. Nun
würde sie auf die Jagd gehen.
Aschure schlüpfte in das Hauptgemach und gelangte
in den dahinterliegenden Raum, in dem die Kinder
schliefen. Imibe war ebenfalls eingenickt, und zu beiden
Seiten ihres Bettes standen die Wiegen mit den Zwillingen. Aschure bedachte sie keines Blickes und begab sich
geradewegs zu Caelums Kinderbett. Er lag wach da, so
wie sie es erwartet und erhofft hatte.
Caelum, wißt Ihr, welche Nacht dies ist?
Die Jultidennacht, Frau Mutter. Die nämliche Nacht,
in der ich geboren wurde.
Aschure lächelte, strich ihm über die Wangen und
wünschte, sie hätte ihn mitnehmen können. Erinnert Ihr
Euch an die Nacht Eurer Geburt, mein Sohn?
Er zögerte. Ja … ja, das tue ich. Damals bereitete ich
Euch große Schmerzen.
Nein. Ihr gabt mir vielmehr, so wie Ihr es immer noch
tut, das allergrößte Glück … Die junge Frau schwieg für
einen Moment. Ich muß nun fort, mein Sohn.
Das ist mir bewußt. Werdet Ihr meinen Vater nach
Hause bringen?
Wenn mir das möglich ist.
Dem Kleinen entging ihr Zögern nicht. Kehrt wieder
heim, Frau Mutter.
Tränen schossen ihr in die Augen. So bald ich kann,
mein Lieber. So bald ich kann.
Damit beugte sie sich über ihn, küßte ihn und floh
leise aus dem Zimmer.
Rivkah erwachte mit einem Ruck und wußte sofort, daß
jemand in ihre Kammer gekommen war. Sie erstarrte,
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