Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
Timozel sich abwandte, rollte sich Jorge auf die
Seite. Der atemberaubende Schmerz, der wie ein Messer
durch seinen Körper schnitt, ließ keinen Zweifel daran
aufkommen, daß er starb. Er legte die Hände um die
Klinge und unternahm einen halbherzigen Versuch, sich
das Schwert aus dem Leib zu ziehen.
Aber der Schmerz überkam ihn mit überwältigender
Heftigkeit, und Jorge konnte nur noch still daliegen und
mit ersterbendem Blick verfolgen, wie Timozel sich mit
seinem Offizier beriet, einer alptraumhaften Kreatur.
»Axis«, flüsterte Jorge mit letzter Kraft, und diesmal
sprach er ein Gebet: Rächt mich!
Zum Schluß hatte Jorge seinen Gott gefunden.
Es ist vollbracht, Herr.
Gut, Timozel. Hattet Ihr Freude an Eurem Tun?
Habt Ihr nicht zugesehen, Herr?
Natürlich habe ich zugesehen und den Anblick genossen. Aber hattet Ihr auch wirklich Freude daran?
Timozel lächelte. Ja, ja und abermals ja. Ich glaube,
ich werde heute nacht in Blut baden.
Und jetzt wollt Ihr nach Süden?
Ja. Ich werde die Falle für Axis aufstellen.
Guter, guter Junge. Hübscher Junge. Ihr dient mir gut.
10 P LUSTERNESTS
B
ERICHT
Zwei Tage später: Eine ikarische Aufklärungsabteilung,
bestehend aus drei Staffeln, befand sich fast hundert
Meilen vor Karlon auf Erkundungsflug über den
Westbergen. Die Vogelmenschen entdeckten plötzlich
einen schwarzen Punkt, der langsam über die Berggipfel
tief unter ihnen trieb. Inzwischen rechnete man täglich
mit Gorgraels Großangriff, und so befahlen die Staffelführer ihren Luftkämpfern, sich dem Wesen dort unten
langsam und vorsichtig zu nähern. Schließlich wolle man
sich nicht in eine Falle locken lassen.
Aber als die Ikarier achtsam auf die Berge zuflogen
und ihre scharfsichtigen Augen den Punkt genauer
erkennen konnten, stieß ihr Anführer, der jüngst beförderte Staffelführer Dornfeder, einen schrillen Schrei aus.
Dann flog er mit mächtigen Flügelschlägen zu seinem
verwundeten Kameraden hinunter.
Dornfeder selbst hatte erst kürzlich einen Greifenangriff überstanden und erkannte daher vor seinen Kameraden den Anblick und den Geruch von Greifenwunden.
Sie erreichten Plusternest wenige Minuten, bevor er
erschöpft vom Himmel stürzte, und, einander abwechselnd, flogen sie ihn zurück nach Karlon. Dort angelangt,
brachten die Vogelmenschen ihn umgehend zu ihrem
Sternenmann ins Jadezimmer, wo dieser gerade gemeinsam mit der Zauberin das Abendessen einnahm. Dort
blieben sie wortlos stehen und warteten ab, welche
Zauber der Krieger wohl bei ihrem sterbenden Freund
anwenden würde.
Und nur weil Plusternest tatsächlich im Sterben lag,
konnte Axis ihm helfen. Er fügte den Vogelmann, auf
dessen Rumpf sich bereits scharlachrote und grüne
infizierte Streifen abzeichneten, zusammen, wie er es
einst bei Dornfeder getan hatte. Dabei sang er das Lied
der Genesung. Und nachdem Plusternest schließlich vor
Überraschung blinzelnd ins Leben zurückgekehrt war,
befahl der Krieger, ihn in eine Kammer zu tragen, wo er
die Nacht verbringen und sich ausruhen könne. Er wolle
erst am folgenden Morgen mit dem Ikarier sprechen.
Weder Axis noch Aschure mußten mit Plusternest
reden, um zu wissen, welche Neuigkeiten er mitbrachte.
Der Sternenmann hatte Plusternest höchstpersönlich
das Kommando über die einzige Ikarierstaffel in Jervois
übertragen.
»Berichtet noch einmal, was Ihr gesehen habt, Plusternest.«
Beschämt senkte der ikarische Offizier den Kopf. Er
saß an dem großen runden Tisch im Ratssaal, und um ihn
herum hatten sich Geschwaderführer, Prinzen, Häuptlinge und Zauberer versammelt. Ihm gegenüber saß Axis
selbst, an seiner Seite die Zauberin. Der Vogelmann
befand sich zum ersten Mal in solch erlauchter Gesellschaft, und er spürte deutlich die um ihn versammelte
Macht.
Zu seiner großen Schande mußte er feststellen, daß er
sich an kaum eine Einzelheit des Überfalls zu erinnern
vermochte.
Plusternest wußte nicht, daß es Dornfeder nicht anders
ergangen war, nachdem Axis ihn ins Leben zurückgerufen hatte. Dornfeder und seine Staffel befanden sich
damals auf dem Rückweg von einem Beobachtungsflug
über Hsingard nach Sigholt, als ein Trupp von Greifen
sie angriff; nur Dornfeder und Abendlied, Axis’ Schwester, überlebten, aber den Staffelführer hatte es damals
schlimm erwischt. Er lag im Sterben, als Abendlied ihn
nach Sigholt zurückbrachte. Aber Dornfeder hatte
ebensoviel Glück wie jetzt Plusternest, denn Axis
Sonnenflieger nahm ihn in Empfang
Weitere Kostenlose Bücher