Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
und heilte ihn.
Auch Dornfeder fehlte jede Erinnerung an den Angriff, dem er beinahe zum Opfer gefallen war.
»Mein Gedächtnis läßt mich im Stich«, klagte Plusternest leise. Weitsicht, der dienstälteste Geschwaderführer
der ikarischen Luftarmada, der neben ihm saß, beugte
sich vor und bedeutete dem jungen Offizier mit einer
ungeduldigen Handbewegung, lauter zu sprechen.
Plusternests Gesicht lief vor Verlegenheit rot an, und
er wiederholte seine Worte mit erhobener Stimme. »Mein
Gedächtnis läßt mich im Stich, Sternenmann.« Er faltete
verkrampft die unter dem Tisch verborgenen Hände. »Ich
weiß noch, daß ein Eissturm über Jervois losbrach, der so
schlimm wütete, daß vier Kämpfer meiner Staffel mitten
in der Luft zu Eis gefroren. Auch erinnere ich mich
daran, daß wir Tag für Tag zusammengekauert um das
Feuer saßen und aus Furcht vor dem tödlichen Wind
nicht wagten, auch nur einen Schritt nach draußen zu
machen. Und dann herrschte …« Seine Stimme erstarb,
und Weitsicht runzelte die Brauen. Hastig räusperte sich
Plusternest und fuhr fort: »Ich entsinne mich, daß
plötzlich Stille herrschte, und einen Augenblick später
schrie mir Graf Jorge zu, ich solle nach Karlon fliegen,
um Euch eine Nachricht zu überbringen. Aber ich kann
mich nicht mehr darauf besinnen, wie die Botschaft
lautet. Ich schäme mich, meine Unfähigkeit eingestehen
zu müssen«, schloß er flüsternd. »Ich wäre besser mit
meiner Staffel untergegangen.«
Axis erhob sich. Dornfeders Erlebnisse kamen ihm in
den Sinn. Er umrundete den Tisch, und seine alles
beherrschende Persönlichkeit bewirkte, daß ihm die
Blicke der Anwesenden folgten.
Der betrübte Ikarier blinzelte vor Ehrfurcht, weil
dieser mächtige Mann ihn so rücksichtsvoll und freundlich behandelte.
»Plusternest«, meinte Axis, sobald er neben dem
Vogelmenschen angekommen war. »Es dürfte kaum Euer
Fehler sein, daß Ihr die Erinnerung verloren habt.
Vielleicht habe ich Euer Gedächtnis durcheinandergebracht, als ich Euch wieder zusammenfügte, und wenn
wirklich jemand vor Scham im Boden versinken sollte,
dann käme diese Ehre am ehesten mir zu, aber ganz
gewiß nicht Euch.«
»Ich verdanke Euch mein Leben, Sternenmann.«
»Ja, das stimmt«, antwortete der Krieger und legte
eine Hand auf Plusternests Schulter, um ihn am Aufstehen zu hindern. »Und weil das Leben Euch gerade
wieder so schön durchflutet, ist es mir möglich, die
Erinnerung an all das, was sich ereignete, für die hier
Versammelten zurückzurufen. Ein kleiner Zauber,
Plusternest. Wehrt Euch bitte nicht dagegen.«
Aber der Ikarier spannte sich eher aus Aufregung denn
aus Unsicherheit an. Er würde Axis sein Leben anvertrauen – hatte dies bereits getan –, und falls der Sternenmann ihm dabei helfen konnte, sich an das zu erinnern,
was alle am Tisch wissen mußten, dann wäre er ihm
doppelt zu Dank verpflichtet.
Axis stellte sich hinter den Vogelmenschen, legte
beide Hände auf dessen Schultern und begann zu singen.
Jeder der sechs anwesenden Zauberer kannte das Lied
der Erinnerung, aber der Krieger stimmte es mit solch
unglaublicher Fertigkeit und Inbrunst an, daß beinahe
allen Zuhörern vor Staunen der Mund offenstand, sogar
Sternenströmer. Wann immer sein Sohn seine Fähigkeiten vorführte, nahm dies seinem Vater beinahe den Atem,
manchmal aus Stolz, oft aber aus Eifersucht.
Die Luft über der Tischplatte flimmerte und verdichtete sich zu grauem Dunst. Alle Anwesenden wandten den
Blick von Axis ab und beobachteten die Erscheinung, die
vor ihren Augen Gestalt annahm. In dem grauen Nebel
sahen sie Jorge, der sich gerade von dem Fenster
abwandte und Plusternest zuschrie, er solle seine Einheit
aus Jervois hinausschaffen. Alle Befehlshaber im Raum,
Axis und Aschure eingeschlossen, stöhnten unwillkürlich
auf, als sie erkannten, wie sehr sich Furcht und Verzweiflung auf dem Gesicht des Grafen abzeichneten. Mochte
sich Jorge auch seinerzeit in dem Entschluß, so lange an
Bornheld Seite auszuharren wie möglich, geirrt haben, so
galt er doch als ein außergewöhnlicher Offizier und ein
tapferer Mann. Die überwältigende Furcht, die seine
Züge verzerrte und seinen Blick umwölkte, ließ keinen
Zweifel daran, daß Jorge genau wußte, daß er dem Tod
geweiht war.
Dann zitterte die Erscheinung und veränderte sich, und
die Beobachter flogen mit Plusternest und den sieben
überlebenden Ikariern seiner Staffel aus dem Gebäude
und hoch über die Stadt,
Weitere Kostenlose Bücher