Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
blieben.
Aber er hatte jetzt über angenehmere Dinge nachzudenken, namentlich all das Töten, das ihn dort unten
erwartete.
Fangt an, befahl er.
Neunzig Eiswürmer setzten sich nun in Bewegung, und
damit begann der Angriff. Die Männer in den Gebäuden,
die dem nördlichen Stadtrand am nächsten standen,
hörten zuerst das Geräusch, ein furchterregendes
Schaben und Kreischen, das die sich krümmenden
Kreaturen erzeugten, während sie sich ihren Weg durch
die gefrorenen Straßen bahnten.
Niemand stürmte vor, um die Kreaturen anzugreifen.
Selbst wenn sich jemand von den Verteidigern vor die
Tür gewagt hätte, hätte er, gelähmt vor Entsetzen über
diesen Anblick, kaum die Waffe heben können.
Während der letzten Monate hatte Gorgrael nicht nur
an seinen Skrälingen, sondern auch an den Eiswürmern
gearbeitet. In grenzenloser Selbstverliebtheit stattete er
alle seine Kreaturen mit den riesigen Silberaugen aus,
über die er selbst verfügte.
Allerdings ergab sich dabei eine Schwierigkeit, die
maßgeblich des Zerstörers bisherige Versuche, nach
Süden vorzustoßen, verhindert hatte. Das Problem
bestand darin, daß all seine Geschöpfe, seien es nun die
Skrälinge, die Eiswürmer oder auch die Skräbolde, sich
durch eben diese Augen als äußerst verletzlich erwiesen.
Aber dafür hatte er nun Abhilfe geschaffen. Seit neuestem verfügten die Köpfe der Skrälinge und der Eiswürmer über Knochenplatten, die nur noch kleine Schlitze
für die Augen freiließen. Ihr Blickfeld wurde dadurch
zwar ein wenig eingeschränkt, doch nur ein erfahrener
und außergewöhnlich ruhiger Schwertkämpfer oder
Bogenschütze vermochte sie jetzt noch durch einen
Schuß oder einen Stich ins Auge zu töten.
Hinter den Eiswürmern stürmten Tausende von Skrälingen heran, alle mit Fleisch auf den Knochen und mit
einer schützenden knöchernen Rüstung versehen. Sie
sperrten die Mäuler schon weit auf, so sehr freuten sie
sich auf die Arbeit, die vor ihnen lag. Das Töten und
Fressen.
Ruhig und mit ehernem Selbstvertrauen krochen die
Eiswürmer zu den Hauptgebäuden der Stadt, in denen
sich aller Wahrscheinlichkeit nach der überwiegende Teil
der gegnerischen Truppen befand. Mit vor Angst
trockenem Mund kauerte Jorge hinter einem der unteren
Fenster der Markthalle, in der er seinen Befehlsstand
aufgeschlagen hatte. Der Graf war sich nur zu sehr
bewußt, wie wenig er gegen diese angreifenden Horden
auszurichten vermochte, und so blieb ihm nichts anderes
übrig, als seinen Männern den Befehl zu erteilen, sich
von den Fenstern zurückzuziehen und die unteren
Stockwerke aufzusuchen.
Aber was machte das schon aus, wenn er ihren Tod
bestenfalls um Minuten hinauszögerte?
Jorge warf einen Blick über die Schulter auf die Überreste der Staffel der Ikarier. »Raus hier!« krächzte er.
»Zurück nach Karlon. Ihr allein habt eine Chance zur
Flucht. Erzählt Eurem Sternenmann, was Ihr heute hier
gesehen habt. Geht!« rief er. »Säumt nicht länger!«
Plusternest, der Staffelführer, gab den anderen sieben
Ikariern das Zeichen. Er teilte Jorges Glaube, sie könnten
sich nach Karlon durchschlagen, nicht. Mit tödlicher
Sicherheit kreisten Gorgraels Greifen am Himmel – und
Plusternest hatte mit eigenen Augen beobachtet, was ein
Greif anzurichten vermochte. Aber dennoch bestätigte er
den Befehl mit einem Nicken. Vielleicht würde ein oder
zwei von ihnen ja der Ausbruch gelingen.
Eilig begaben sie sich zu einer Hintertür und schwangen sich lautlos in die Lüfte. Der unerwartete Sonnenschein ließ sie blinzeln, dann kreisten sie solange über
der Stadt, wie sie es eben wagten. Unter ihnen befanden
sich die furchteinflößenden Truppenmassen, die durch
die Stadt und weiter im Westen über die nördlichen
Ebenen von Aldani bewegten. Dann flohen sie im Pulk
nach Süden, um sich notfalls gegenseitig Schutz gewähren zu können.
Weiter nördlich kniff Timozel prüfend die Augen
zusammen. Er hatte zwar eine solch närrische Zurschaustellung von Tollkühnheit erwartet, aber glaubten die
Vogelmenschen tatsächlich, mit heiler Haut zu entkommen?
Die Stimme Skräfurchts, der mit einer Reserveeinheit
von Skrälingen immer noch vor Jervois wartete, kreischte
in seinem Kopf. Erlaubt, daß wir sie vernichten, Herr!
Oder schickt die Greifen! Die können sie in Sekundenschnelle in Stücke zerfetzen!
Narr! antwortete Timozel und benutzte die Macht, die
Gorgrael ihm verliehen hatte, um Skräfurchts Geist und
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