Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
ebenfalls und murmelten Abschiedsworte. Ogden und
Veremund schämten sich der Tränen nicht, die ihnen übers
Gesicht liefen. Sie würden Yr wiedersehen, aber dann
würde sie verändert sein und sich weiter verwandeln –
niemals mehr würden die Wächter ihre Gefährtin vor sich
sehen, wie sie sie alle seit langem kannten und liebten.
Schließlich gesellte sich auch der Prophet zu ihnen,
und seine silbrig glänzende Erscheinung blendete jeden
von ihnen. Sanft legte er eine Hand auf Yrs Schulter.
Dann beugte er sich vor und küßte sie auf den Mund.
»Für das Opfer, das Ihr nun bringt, wird man Euch für
alle Zeiten lieben«, erklärte er. »Und in meinem Herzen
lebt Ihr ewig. Ich hätte mir niemand Besseren als Euch
wünschen können.«
Die Katzenfrau lächelte ihn an. Tränen strömten über
ihr Gesicht, aber sie weinte vor Freude, nicht aus Trauer.
Er erwiderte ihr Lächeln, und ihr stockte angesichts
seiner Schönheit der Atem. »Yr, heute nacht wird Euch
eines der großen Mysterien des Gralsees offenbar
werden, aber dazu sind Mut und Standhaftigkeit erforderlich. Fühlt Ihr Euch dazu bereit?«
»Ja, Prophet, ich bin bereit.«
Er hob eine Hand und ließ sie durch ihr hellblondes
Haar gleiten. »Ihr braucht meine Stärke und meinen
Atem für die Reise, die Ihr nun antreten sollt, Yr.«
Dann beugte der Prophet sich vor und küßte sie noch
einmal, diesmal sehr innig.
Als er zurücktrat, waren Yrs Tränen getrocknet, und
sie wirkte voller Energie und selbstsicher.
»Ich mochte jeden von Euch und mag Euch immer
noch«, erklärte die Katzenfrau noch, bevor sie zum Rand
des Wassers schritt.
Dort entledigte sie sich ihres Gewandes und stand, in
Mondlicht gebadet, einige Augenblicke nackt vor ihnen.
Dann erhob Yr beide Arme über den Kopf, streckte ihren
ganzen Körper und spreizte flehentlich die Finger.
»Schwester Mond«, rief die Katzenfrau aus, und ihre
Stimme bebte vor Freude, »zeigt mir den Weg zu der
Ruhestätte der Götter!«
Aschure murmelte im Schlaf und rollte sich herum. Axis
wachte auf und musterte sie besorgt, aber seine Gemahlin
glitt still in ihren Traum zurück, und der Krieger schloß
die Augen und beruhigte sich wieder.
Für die Dauer eines Herzschlages geschah nichts, dann
änderte sich das Licht des Mondes auf den Wellen,
flackerte und schien zu zögern, um sich dann schließlich
an einer Stelle im Wasser kaum ein paar Schritte vor Yr
zu sammeln und zu verdichten.
»Ich danke Euch«, flüsterte Yr und sprang kopfüber in
den See.
Lange, lange Zeit schwamm sie, dem silbernen Pfad des
Mondes folgend, nach unten. Ihr Haar flutete hinter ihr
her, jetzt selbst silbern glitzernd, und ihre klaren blauen
Augen blickten weit aufgerissen in die Tiefen. Um sie
herum veränderte sich die Farbe des Wassers von Blau
zu Indigo und schließlich zu Schwarz, während sie
tiefer und tiefer in das Geheimnis des Gralsees eindrang.
Yr tauchte viel tiefer, als es ein menschliches Wesen
je vermocht hätte, aber die Katzenfrau war schließlich
kein Mensch.
Sie schwamm länger, als es irgend jemandem, ohne
Luft zu holen, möglich gewesen wäre, aber der Prophet
hatte sie mit seiner Kraft und seinem Atem ausgestattet.
Yr schwamm immer noch, als andere es längst aufgegeben hätten, aber sie glaubte unerschütterlich an den
Propheten, und das ließ sie durchhalten.
Und die ganze Zeit über wies ihr das silberne Licht
des Mondes den Weg und geleitete sie in die unbekannten Tiefen des Sees.
Unter den Charoniten erzählte man sich eine Sage, die
davon kündete, wie Götter, ältere noch als die Sternengötter, ihnen das Geschenk der heiligen Seen hinterließen. Während eines Sturms, der viele Tage und Nächte
währte, regnete Feuer vom Himmel nieder und verbrannte nahezu alles, was auf der Erde lebte. Nur wenige
abgehärtete Wesen überlebten im Schutz tiefer Höhlen.
Als sie endlich wieder hervorkrochen, fanden sie Seen
vor, wo zuvor keine existiert, und Berge, wo sich vorher
Hochebenen erstreckt hatten. Ehrfürchtig starrten sie die
Gewässer an, denn damals waren sie viel klarer als heute,
und die Überlebenden vermochten vage Umrisse dessen
auszumachen, was sich unten auf dem Grund verbarg.
Man erzählte sich, daß die uralten Götter selbst in den
Tiefen der heiligen Seen schliefen.
Heutzutage jedoch erinnerten sich nur noch die Charoniten an diese Sagen.
Und Yr verfügte über Kenntnisse, die Charoniten
vorenthalten blieben, und außerdem glaubte sie. Deshalb
Weitere Kostenlose Bücher