Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
hohen
Leib legte und für die Zwillinge Lieder sang, erfüllten die
junge Frau mit Unbehagen. Sie erinnerte sich an die Bitte
ihres Gemahls, Sternenströmer zu heiraten, falls ihm
etwas zustieße, und fragte sich, ob er wohl mit seinem
Vater darüber gesprochen hatte. Sternenströmers Gesicht
und Gedanken gaben nichts dergleichen preis, und er
behandelte sie, wenn er ihr so nahe war, mit ausgesuchter
Höflichkeit. Aber Aschure konnte sich nicht ganz von
dem Gedanken freimachen, daß Sternenströmer womöglich hoffte, ihr eines Tages noch weit näher zu kommen.
Alles in allem, dachte Aschure, während sie über den
Gralsee glitt, würde es sicher recht erholsam sein, endlich
einen entspannenden Nachmittag in Narrenturm zu
verbringen.
Die Möglichkeit bestand durchaus, daß Wolfstern sich
wieder zeigte, aber Aschure legte keinen besonderen
Wert darauf, ihn zu sehen. Wenn sie, sobald sie die
Schwelle überschritt, dem Narrenturm ihre Gefühle
offenbarte, so überlegte sie, dann würde Wolfstern
fernbleiben – oder ferngehalten werden.
Die junge Mutter trug Caelum auf dem Arm, denn
während der vergangenen Tage hatte sie weniger Zeit mit
ihrem entzückenden Sohn verbringen können, als ihr
wünschenswert erschien. In dem kleinen Ruderboot
drängten sich zusätzlich die warmen Körper von sieben
Alaunt, unter ihnen natürlich auch, wie könnte es anders
sein, Sicarius. Auf lautlosen Sohlen waren die Riesentiere ihr durch die Palastgänge gefolgt, um dann ebenso
still, aber sichtlich entschlossen, in das Ruderboot zu
springen. Hesketh stieß einen Schwall von Flüchen aus,
um dann Aschure beschämt um Vergebung zu bitten.
Armer Mann, dachte sie, als sie sich dem Narrenturm
näherten, eine noch düsterere Stimmung als meine
scheint sich seiner bemächtigt zu haben. Eine Woche
zuvor waren Yr und die übrigen Wächter verschwunden,
und Aschure, Axis und alle anderen, die der Prophezeiung nahestanden, sorgten sich wegen ihrer plötzlichen
und unerklärlichen Abreise. Hesketh, der tiefe Gefühle
für Yr hegte, traf ihr Verschwinden am schwersten, und
Aschure überlegte, ob sie ihn fragen sollte, ob er eine
Mittagsmahlzeit mit ihr einnehmen wolle. Möglicherweise brauchte der Offizier nur jemanden zum Reden.
Vielleicht, so dachte Aschure, als Hesketh ihr aus dem
Boot half und die Alaunt über den mit Gras bewachsenen
Boden in Richtung Narrenturm sprangen, braucht er aber
auch nur die Katzenfrau.
Angenehme Kühle empfing sie im Inneren des uralten,
sagenhaften Gebäudes. Aschure lächelte, als sie sich an
die geschlossene Tür lehnte. Die sieben Hunde beschnüffelten jede verborgene Ecke, die sie finden konnten, und
die junge Frau dachte, sie würden wohl allerhand aufstöbern in diesem geheimnisumwittertsten aller Türme.
Steigen wir zum Dach hoch, Mutter?
Aschure blieb der besorgte Unterton von Caelums
Gedanken nicht verborgen. Ohne jeden Zweifel plagten
ihren Sohn die gleichen, in höchstem Maß unerfreulichen
Erinnerungen an das Dach von Narrenturm wie sie selbst.
»Ein andermal, Caelum, aber nicht heute. Ich bin zu
müde, um all die Stufen bis zur Spitze hochzuklettern.«
Aber was werden wir dann tun?
Aschure zögerte. In der letzten Nacht, als sie schlaflos
im Bett gelegen hatte, hatte sie darüber nachgedacht. Vor
Einsamkeit in dem leeren Bett, den Tränen nahe und die
Teilnahmslosigkeit der ungeborenen Kinder als zusätzliche Belastung spürend, beschloß sie, am folgenden
Morgen damit zu beginnen, Versuche mit dem Turm
anzustellen. Um das Ausmaß seiner Macht kennenzulernen.
Sie hoffte, das Richtige zu tun. Und wenn sie sich nun
in den vielen Stockwerken verirrte?
Ihre Hand lag schon auf dem Treppengeländer, als sie
innehielt und die Alaunt zu sich rief.
Während die Hunde sich zu ihren Füßen versammelten, erinnerte sich Aschure wieder an Wolfsterns Worte.
Entscheidet, wohin Ihr möchtet, bevor Ihr mit dem
Aufstieg beginnt, und die Stufen werden Euch zu diesem
Ort bringen.
»Ich möchte zu einem Ort, an dem ich ein wenig Trost
finde«, erklärte die junge Frau laut und begann mit dem
Aufstieg.
Faraday erlebte das Gefühl, daß Aschure sich in der Nähe
befand, inzwischen so stark, daß sie in ihrem Sessel nach
vorne rutschte und ganz auf der Kante saß, um notfalls
sofort auf die Füße springen zu können.
»Aschure? Aschure? Wo seid Ihr?«
Aschure? Aschure? Wo seid Ihr?
In selben Augenblick, als sie Faradays Stimme vernahm, unterbrach Aschure ihren
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