Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
fester um
ihren Sohn, aber davon abgesehen, schenkte sie ihm
keine Beachtung. Als Faraday seinerzeit Aschures
Rücken geheilt hatte, hatte sie ihr das Gefühl beschrieben, das sie ergriff, wenn sie durch das Smaragdlicht
schritt und beobachten konnte, wie es sich allmählich
veränderte, bis es sich in die Bäume und den Himmel des
Heiligen Hains verwandelte.
Nun stand Aschure selbst diese Erfahrung bevor.
Ohne genau zu wissen, wann und wo der Übergang
stattgefunden hatte, fand sie sich schließlich auf einem
Pfad wieder, der mit einem Teppich weicher Piniennadeln bedeckt war. Links und rechts von ihr ragten Bäume
hoch auf, und Sterne erfüllten den Himmel und tanzten
ihren ewigen Reigen. Sie starrte zu ihnen hinauf und
glaubte, tatsächlich ihre Bewegungen sehen zu können.
Schließlich senkte die junge Frau ihren Blick und
schaute zur Seite. Sie stellte fest, daß Faraday ein
Gewand trug, wie sie es nie zuvor gesehen hatte. Die
grüne Robe erinnerte sie an das Smaragdlicht, das immer
dunkler wurde und sich veränderte. Während Faraday
voranschritt, wechselten die Farben des Kleides zwischen
Smaragd und Blau, dann Violett und Braun und schließlich wieder zu Smaragdgrün.
Auch Faraday selbst schien sich verändert zu haben.
Sie wirkte mächtiger, selbstsicherer und viel, viel
schöner.
»Seid Ihr Euch sicher, daß ich diese Wege beschreiten
darf?« Aschure wußte nicht, wie man sie hier empfangen
würde. »Die Awaren weigerten sich, mich aufzunehmen,
und ihre Magier«, sie dachte an die durchdringende
Kälte, mit der Barsarbe ihr begegnet war, »könnte mein
Besuch in ihrem Heiligen Hain erzürnen. Ihnen gefiel
mein, wie sie es nannten, Hang zur Gewalttätigkeit
nicht.«
Aber das schien die Edle nicht weiter zu beunruhigen.
»Ich übernehme die Verantwortung dafür«, entgegnete
sie. »Doch seid jetzt still. Seht Ihr? Wir betreten jetzt den
Heiligen Hain selbst. Ihr werdet bald genug erfahren, wie
die Gehörnten Euch beurteilen.«
Als Faraday Axis mit in den Hain genommen hatte,
damit er Zeuge von Ramus Umwandlung und Wiedergeburt werde, hatte sie beinahe augenblicklich die Vorbehalte gespürt, die von den Bäumen gegen den Krieger
gehegt wurden. Sie hatten ihm um der Baumfreundin
willen Zugang gewährt, ihn aber mit Sicherheit nicht
gemocht. Dieses Mal spürte Faraday keines dieser
Gefühle. Statt dessen nahm sie gleich die Liebe und das
Frohlocken wahr, das sie immer empfing, wenn sie die
Wege zum Hain betrat.
»Sagt nichts, bevor man Euch anspricht«, empfahl die
Baumfreundin Aschure. Die junge Frau antwortete mit
einem Nicken und hoffte, Caelum würde sich gut
benehmen. Nie zuvor in ihrem Leben war sie einer Macht
ausgesetzt gewesen wie der, die sie jetzt spürte, und
Ehrfurcht und Angst erfüllten sie. Als sie auf die von
gigantischen Bäumen umringte Lichtung traten, spürte
Aschure, wie fremde Augen sie von den dunklen
Zweigen her beobachteten.
Sie schaute geradeaus … und zuckte zusammen. Das
großartigste – und schreckenerregendste – Wesen, das sie
je zu Gesicht bekommen hatte, kam auf sie zu. Aschure
erblickte den prächtigen Kopf eines Hirsches auf einem
muskulösen Männerkörper und wußte, daß sie einen der
Heiligen Gehörnten vor sich hatte, einen jener magischen
Wesen, in die sich die männlichen Zauberer der Awaren
nach ihrem Tod verwandelten.
Hielt Ramu sich auch hier auf?
Aber bei diesem Gehörnten handelte es sich nicht um
Ramu, denn er stellte keinen vollständigen Hirsch dar.
Dieses Wesen trug jedoch einen edlen Silberpelz, der
ihm bis über seine Schultern und den halben Rücken
reichte. Aschure konnte fühlen, daß sie einem der
ältesten dieser geheimnisumwitterten Zauberwesen
gegenüberstand.
»Seid mir gegrüßt, Baumfreundin«, begann der Silberpelz und beugte sich vor, um seine Wange an
Faradays Gesicht zu reiben.
Beim Klang seiner menschlichen Stimme schrak
Aschure wieder zusammen. Erst kurz bevor der Gehörnte
sich ihr zuwandte, war es ihr gelungen, die Fassung
wiederzuerlangen.
»Geheiligter«, entgegnete Faraday, »ich habe meine
Freundin Aschure Sonnenflieger mitgebracht, damit sie
Euch kennenlernen kann. Ich hoffe, Ihr seid mit ihrer
Anwesenheit hier im Heiligen Hain einverstanden.«
Der Hirschmann trat zu Aschure und schaute ihr fest
in die Augen. Sein Blick war kalt und hart. Aschure
spürte, wie sie darunter erbebte, aber sie konnte die
Augen nicht von ihm abwenden.
Die junge Frau nahm wahr, daß Caelum in ihren Armen
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