Das Vermächtnis
abgestürzt.
„Aber auch so konnte sie sich kaum rühren – als wäre sie magenstarr“, hatte er erzählt, während ich die Augen geschlossen und versucht hatte, mich in Siv hineinzuversetzen. Was mochte sie in dieser Blutnacht gefühlt haben, die vom Gekreisch der Dämonen erfüllt gewesen war?
Doch nun saß sie vor mir. Meine Königin, meine Freundin, meine heimliche Liebe.
„Gränk! Glaux sei Dank, dass du da bist!“ Sie erhob sich, fuhr mir zur Begrüßung mit dem Schnabel durchs Gefieder und glättete meine Fransen. Das tat gut nach dem langen Flug.
„Sei mir gegrüßt, Siv.“ Ich verneigte mich vor ihr und begrüßte dann ihre treue Dienerin.
„Myrrthe und ich glauben, dass heute Nacht ein Hägsdämon hier war“, sagte Siv. „Wir haben ihn beide gerochen.“
Ich hatte ihr eigentlich verschweigen wollen, dass ich Penryck begegnet war, doch jetzt erwiderte ich: „Macht euch keine Sorgen. Er ist fort.“
„Hast du ihn denn gesehen? War es wirklich ein ‚Er ‘ ?“
„Ja. Es war Penryck.“
„Penryck …“ Sie schloss vor Erleichterung kurz die Augen. „Und ich dachte schon, es sei Ygryk gewesen. Sie gilt als furchtbar grausam.“
„Das habe ich auch schon gehört, aber sie soll längst nicht so bösartig sein wie Penryck.“
„Oh doch! Sie ist hundertmal schlimmer.“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Weil sie es auf mein Ei abgesehen hat. Sie ist die Gefährtin von Pliek. Die beiden können keine Küken bekommen, weil sie eine Dämonin ist und er ein Uhu. Darum will Ygryk mein Ei rauben und es selbst ausbrüten. Sie will unbedingt Mutter werden. Aber sie wird mein Küken verhexen, damit es genauso böse wird wie sie!“ Das Wort „Mutter“ blieb der armen Siv beinahe im Halse stecken. „Ich habe solche Angst, Gränk! Ygryk ist zu allem fähig. Niemand ist entschlossener als eine Dämonin, die ein Küken haben will.“
„Du irrst dich, meine Liebe.“
„Wie meinst du das?“
„Eine Mutter, die ihr bedrohtes Küken verteidigt, ist noch tausendmal entschlossener!“ Siv machte ein erstauntes Gesicht. Ich wechselte das Thema. „Lass mich doch mal einen Blick auf dein Ei werfen.“
In dem Schneddenfyrr lag ein Ei, wie ich noch keines gesehen hatte. Es schien von innen heraus zu leuchten, als wartete darin ein kleiner Mond auf sein Schlüpfen. Ich wusste instinktiv, dass das Küken ein Sohn war. Mir fiel auch sofort der passende Name ein. „Hoole“ – nach dem legendären Zauberer aus alter Zeit, auch wenn er vermutlich nur eine Erfindung war, um die verstörten Mägen unseres von Dämonen heimgesuchten Volkes zu trösten. „Hoole“ nannten die Urzeitwölfe auch den Geisterschnabel, der sie einst in die Hinterlande geführt hatte.
Als ich aufschaute, begegnete mein Blick dem von Siv. Ein Mondstrahl fiel in die Schlucht und entzündete kleine Funken in ihren Augen. Ich konnte in diesen Funken lesen wie in einem richtigen Feuer. Ich sah ein verzweifeltes Eulenweibchen, das mit seinem Ei in den Zehen das Wintermeer überquerte. Siv schien zu ahnen, was ich sah. Als sie wieder sprach, bebte ihre Stimme. „Es ist ein ganz besonderes Ei, nicht wahr?“
Ihr Blick wurde abwesend. Sie dachte über die schwere Entscheidung nach, die sie treffen musste. Ich konnte ihr nicht dabei helfen. Als Männchen konnte ich nicht nachvollziehen, wie es war, ein Ei zu legen, ob es nun ein besonderes Ei war oder ein gewöhnliches.
Siv gab sich einen Ruck. „Um meinen Sohn zu retten, muss ich mich von ihm trennen.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Ich nickte. „Es ist zu riskant, wenn du das Ei weiter mit dir herumträgst. Sämtliche Hägsdämonen sind hinter dir her, und irgendwann werden sie dich finden. Auch Fürst Arrin wird sich an der Verfolgung beteiligen. Wenn das Küken in seinem Herrschaftsgebiet schlüpfen und aufwachsen würde, wäre er mächtiger denn je.“
„Stell dir nur mal vor …“ Siv sprach so leise, dass sie kaum noch zu verstehen war. Das Leuchten, dass von dem Ei ausging, fiel auf ihr Gesicht. „Stell dir nur mal vor, mein Ei würde zu einer Waffe des Bösen!“
„Das kann und will ich mir nicht vorstellen.“
Siv schüttelte sich leicht, dann richtete sie sich hoch auf. „Willst du mein Ei an dich nehmen und das Küken mit Liebe und Sorgfalt großziehen?“
„Mit aller Liebe und Sorgfalt, die ich aufbieten kann, das verspreche ich dir. Und wenn es irgendwann so weit ist, dass du deinen Sohn wiedersehen kannst …“, bei den Worten
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