Das Vermächtnis
„dein Sohn“ zuckte sie zusammen, „… wenn wieder Frieden im Land herrscht und die Hägsdämonen besiegt sind, dann werde ich dich sofort verständigen. Darauf hast du mein Wort.“
„Ich glaube dir.“ Tränen liefen über ihr Gesichtsgefieder. Sie betrachtete wieder ihr Ei, das noch heller leuchtete als zuvor. Es schien körperlos geworden zu sein und nur noch aus reinem Licht zu bestehen. Und so wie das Ei nur noch Licht war, war Siv nur noch Schmerz.
„Wo willst du dich mit ihm verstecken?“, fragte sie mit erstickter Stimme.
Ich atmete insgeheim auf. Offenbar ahnte sie nicht, was ich vorhatte. „Wenn ich dir das verraten würde, würde ich damit nicht nur das Ei in große Gefahr bringen, sondern auch dich selbst.“
„Was aus mir wird, spielt keine Rolle mehr.“
„So etwas darfst du nicht sagen, Siv!“
„Ohne mein Ei und ohne meinen Gefährten bin ich ein Nichts.“
„Aber, aber!“ Myrrthe tätschelte ihre Herrin beschwichtigend.
„Hör zu, Siv“, sagte ich. „Ganz gleich, wo sich dein Küken aufhält, du bist und bleibst eine Mutter. Du hast das Ei gelegt, aus dem dein Sohn schlüpfen wird. Und genauso bist und bleibst du eine Königin.“
Sie ließ den Blick über die Eiswände ringsum wandern und erwiderte resigniert: „Eine Königin, die in ihrem eigenen Palast gefangen ist.“
Im selben Augenblick umfing uns ein ekelerregender Gestank und gelbes Licht erfüllte die Schlucht.
„Die Hägsdämonen sind da!“, sagte Siv.
„Oh nein!“ Myrrthe entfuhr ein Entsetzensschrei. Doch dann sträubte sie trotzig das Gefieder, sodass sie auf einmal doppelt so groß erschien. Es sah aus, als hätte sich eine schneeweiße Wolke in den Palast verirrt.
Als ich mich wieder Siv zuwandte, bekam ich beinahe einen Schreck. Ihre warmen gelbbraunen Augen hatten einen harten Glanz bekommen. So hart wie die Metalle, die Fengo und ich aus dem Gestein geschmolzen hatten. So hart wie das Eis, aus dem man Schwertklingen schlägt.
Sie bückte sich nach einem Eisdolch, der H’rath gehört hatte. Dann deutete sie mit dem Schnabel hinter sich. „Du fliegst in diese Richtung, Myrrthe, und wartest an unserem vereinbarten Treffpunkt auf mich.“ Ihr Ton duldete keinen Widerspruch.
„Sehr wohl, Herrin.“ Myrrthe bewaffnete sich mit einem kleineren Eisdolch und verschwand. Auch Siv schwang sich in die Luft.
Ich wusste, was sie vorhatte. Sie wollte die Dämonen hinter sich herlocken und aufhalten. Ich nahm das Ei in die Zehen und flog in Richtung Palasttor. Würde sich jetzt meine Behauptung bewahrheiten, dass eine Mutter, die ihr bedrohtes Küken verteidigt, entschlossener ist als jede Hägsdämonin?
Ich überquerte die Reißzahnbucht und hielt Kurs auf das Bittermeer. Mein Ziel war eine dicht bewaldete Insel. In den Bäumen dort gab es zahlreiche Höhlen. Ich würde bestimmt ein gutes Versteck für mich und das Ei finden. Wir Eulen im Norden bauen unsere Nester für gewöhnlich in Gletscherspalten, in Bodensenken oder auf Klippen. In stickigen Höhlen auf schwankenden Bäumen fühlen wir uns unwohl. Niemand würde Sivs Ei in einer Baumhöhle vermuten. Ich konnte in aller Ruhe abwarten, bis das Küken geschlüpft war.
Der Wald bot noch einen anderen Vorteil. Aus den Hinterlanden hatte ich nicht nur den Elchhornbehälter mitgebracht, sondern auch ein weiteres Behältnis, das Fengo und ich zusammen hergestellt hatten. Wir hatten erhitztes Metall zu einem Gefäß geformt, das nicht größer war als eine dicke Eichel oder ein sehr kleines Eulenei. Darin lag ein Stück „Rums-Glut“, das ich in eine dicke Lage Flechten gewickelt hatte, damit es heiß blieb, aber auch, damit das Metallgefäß nicht schmolz. Die Flechten dieser besonderen Sorte, die nur in den Hinterlanden gedieh, fingen nur sehr schwer Feuer.
Mit der Rums-Kohle und den anderen Glutstücken wollte ich eigentlich in meiner Heimat N’yrthgar weitere Versuche durchführen. Wenn ich nun aber gezwungen war, längere Zeit auf einer abgelegenen Insel auszuharren, musste ich wissen, was im übrigen Königreich vor sich ging. Ich musste nur aufpassen, dass mein Feuer nicht auf den Wald übersprang.
Es war eine klirrend kalte Nacht, als ich auf der Insel eintraf. Ich suchte mir eine Stelle im Wald, an der die von Eis bedeckten Bäume besonders hoch und gerade gewachsen waren. Im Wipfel eines Baumes entdeckte ich zwei untereinander liegende Höhlen. Die eine war gerade groß genug für ein verwaistes Ei und seinen Ziehvater. Die andere bot genug
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