Das Vermächtnis
erschien lediglich ein dunkler Fleck. Es sah aus, als käme er auf die Insel zugeflogen, aber ich schenkte ihm keine weitere Beachtung. Der Fleck tauchte am Rand der Flammen auf und verschwand gleich wieder. Bei unseren Experimenten hatten Fengo und ich nämlich festgestellt, dass man Flammen in vier Bereiche einteilen konnte. Ich fand heraus, dass die deutlichsten Bilder im sogenannten „weißen Bereich“ erschienen.
Ich konnte Sivs Bild nicht heraufbeschwören. Es würde sich von selbst zeigen oder auch nicht. Doch als ich vor dem Feuer saß, erwachte mein Forschergeist von Neuem. Konnte man Feuer eigentlich auch einsetzen, um die Schlagkraft von Waffen zu verbessern? Konnte man zum Beispiel die Schneide eines Dolchs aus Issen blu noch schärfen, wenn man die Klinge in den „gelben Bogen“ einer Flamme hielt, wie Fengo und ich diesen Bereich genannt hatten?
Auf diese Weise vertrieb ich mir die Zeit bis zum Schlüpfen des Kükens. Ich brauchte nicht ununterbrochen auf dem Ei zu sitzen, denn ich hatte das Schneddenfyrr ja wärmend ausgepolstert. Trotzdem machte ich die ungewohnte Erfahrung, wie anstrengend es ist, sich um ein Ei zu kümmern. Als meine Geschwister noch im Gelege waren und schließlich schlüpften, wechselten sich meine Eltern mit ihrer Betreuung ab. Ein Elternteil flog auf die Jagd, während der andere brütete beziehungsweise auf die Küken aufpasste.
Brüten ist ungefähr so spannend, wie einem Eisbrocken beim Schmelzen zuzuschauen. Wenn das Küken dann aber schlüpft, ist schlagartig Schluss mit der Langeweile. Der kleine Schnabel steht immer offen, bettelt, piepst und quengelt. Zum Glück hatte ich mich nur um ein einziges Küken zu kümmern. Doch der kleine Prinz würde genauso viel Arbeit machen wie jedes andere Eulenkind. Er würde mir die Ohrschlitze vollplärren, das Nest zerwühlen und beschmutzen und Flugversuche unternehmen, bevor er richtig flügge war. Manchmal bereute ich das Versprechen, das ich Siv gegeben hatte.
Doch mir war stets bewusst, dass in dem überirdisch leuchtenden Ei ein einzigartiges Küken heranwuchs. Der eisbedeckte Wald auf der Insel war ein idealer Zufluchtsort für uns beide. Wenn ich über mich und das Ei nachdachte, dachte ich inzwischen „wir“. Das Küken hatte ja niemanden außer mir, da spielte es keine Rolle, dass ich nur sein Ziehvater war. Vor allem aber würde ich sein Mentor und Lehrer sein. Wenn sich meine Ahnungen bestätigten, würde der kleine Prinz eines Tages das Schicksal der gesamten Eulenwelt lenken. Dabei spielte die „Eulenglut“ eine entscheidende Rolle, da war ich sicher.
Ich selbst besaß nicht genug Ga’, um der Glut standzuhalten. Das Ga’ des Kükens jedoch war so stark, dass es durch die Eierschale hindurchstrahlte. Verglichen mit der ungeheuren Verantwortung, die der künftige König zu tragen hatte, waren meine bevorstehenden Elternpflichten ein Klacks. Sivs Sohn würde schlüpfen, wenn die Nacht am längsten und der Tag am kürzesten war, das spürte ich. Bis dahin musste ich mich gedulden.
Ich entfernte mich nie weit von unserem Baum, aber ich machte inzwischen auch unten auf dem Waldboden Feuer. Jeder Tag bescherte mir neue Entdeckungen. In den Hinterlanden fand man überall Steine, die Kupfer, Gold und Silber enthielten. Solches Gestein gab es in der Umgebung des Baumes nicht. Ich wollte auch nicht auf die Suche danach fliegen und das Ei allein lassen. Darum musste ich mich mit dem begnügen, was in der Nähe zu finden war. Das waren rötliche Steine, in denen ich ebenfalls Metall vermutete. Meine mitgebrachte Rums-Glut hatte zwar neue Glut hervorgebracht, aber leider keine neuen Rumser. Rums-Glut kann man nur im Flug aus einem lodernden Brand fangen. Das war schade, denn ich würde ein besonders heißes Feuer brauchen, um dem rötlichen Gestein seinen Inhalt zu entlocken.
Ich experimentierte daher mit anderen Methoden, das Feuer heißer zu machen. Ich konstruierte verschiedene Feuerstellen und erfand eine Bauweise, die ich „Esse“ nannte. Unter unserem Baum lag ein riesiger Felsen, der in der Mitte gespalten war. Dieser Spalt weckte mein Interesse. Die vom Waldboden aufsteigende Luft zog durch ihn hindurch wie ein kleiner Wind. Über dem Felsen trat sie wieder aus. Konnte ich mir diesen Luftzug vielleicht zunutze machen? Ohne Luftzufuhr erlosch ein Feuer, so viel wusste ich schon. Ich entfachte in dem Felsspalt ein Feuer nach dem anderen und beobachtete, wie sich die Hitze entwickelte.
Es war eine richtige
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