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Das Vermächtnis

Das Vermächtnis

Titel: Das Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathryn Lasky
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Platz für die Experimente eines Glutsammlers.
    Ich würde die Nisthöhle nicht nur mit Schnee und Eis auskleiden wie ein traditionelles Schneddenfyrr, sondern auch mit Reisig, Moos und Tannennadeln. So würde das Ei schön warm bleiben. Auf den Boden der Feuerhöhle würde ich eine dicke Schicht Schnee häufen und eine Glutgrube ausheben. Als Brennmaterial für mein „Nachrichtenfeuer“ sollte mir Birkenrinde dienen.
    Doch wie mochte es inzwischen Siv ergangen sein? Die Frage ließ mir keine Ruhe. Ich richtete die Nisthöhle her und legte das Ei hinein. Dann machte ich mich sofort daran, Schnee in die Feuerhöhle zu tragen. Ich entschloss mich, für das Nachrichtenfeuer meine Rums-Glut zu verwenden. Bald züngelten kleine Flammen über die Birkenrinde. Ich beugte mich gespannt vor.
    Anfangs waren die Bilder zu flackernd und unscharf, um eine bestimmte Eule zu erkennen. Ich sah nur einen schwarzen Umriss, bei dem es sich um einen Hägsdämon handeln mochte. Weitere dunkle Schemen gesellten sich dazu. Ja, das waren eindeutig Dämonen, und zwar ein ganzer Schwarm. Konnten Siv und Myrrthe es mit ihnen aufnehmen? Die Bilder wurden schärfer. Ich sah etwas Helles wabern, dann blitzte etwas Gebogenes auf. Die Klinge von H’raths Dolch!

Siv hatte den Eisdolch im Schnabel. In den Füßen trug sie einen eiförmigen Schneeklumpen. Der Gestank der Dämonen raubte ihr den Atem. Sie taumelte kurz im Flug, fing sich aber gleich wieder. Die beiden Dämonen flogen sehr schnell, aber Sivs List hatte Erfolg. Die Dämonen glaubten, dass sie das Ei bei sich hatte. Sie konnten sich nicht einfach auf sie stürzen, denn dann würde das Ei zerbrechen. Doch wenn sie Siv vor der Eiswand in die Enge trieben, würden sie die Täuschung erkennen. Dann war Siv verloren.
    Plötzlich wurde die Nacht von gleißendem Licht erhellt. Mond und Sterne färbten sich giftig gelb. Sivs Flügel erlahmten, und das Ei drohte ihr zu entgleiten. Siv war aber nicht flügelstarr geworden – es war noch viel schlimmer. Ihr Magen war gelähmt. Das grelle Lodern der Dämonenaugen machte sie willenlos. Mit letzter Kraft wehrte sie sich gegen den Fluch. Sie ließ das falsche „Ei“ los, packte den Dolch mit den Zehen und ging zum Angriff über.
    Das gelbe Licht erlosch. In den Flammen erschien wieder das wirbelnde Schneetreiben. Schaudernd beobachtete ich, wie sich die Flocken blutig rot färbten. Dann erblickte ich eine abgetrennte Flügelspitze. Mein Magen wurde eiskalt. Ich kniff angestrengt die Augen zusammen. War die Flügelspitze schwarz oder war sie braun mit weißen Flecken? Weil die Wunde stark blutete, war das nicht richtig zu erkennen … und nun verschwammen die Bilder und verschwanden schließlich ganz. Wenn ich eine Vision gehabt hatte, war ich oft erschöpft, aber so kraftlos wie diesmal hatte ich mich noch nie gefühlt. Doch ich musste in die Nisthöhle zurückkehren und mich um das Ei kümmern. Ich musste Sivs Küken großziehen. Wenn ich mir vorstellte, dass sie selbst womöglich tot war, zerriss es mir schier den Magen, aber jetzt zählte nur das Leben. Siv hatte mir ihr einziges Kind anvertraut. Dieses Vertrauen durfte ich nicht enttäuschen. Siv von H’rathgar, meine einzige große Liebe – würde ich sie jemals wiedersehen?
    Es verging viel Zeit, bis ich mich überwinden konnte, abermals ein Nachrichtenfeuer zu entfachen. Vorerst konzentrierte ich mich ganz auf das Ei. Ich zupfte mir jeden Tag Dunen aus dem Brustgefieder. Ich grub im Schnee unter dem Baum verwelkte Blätter aus, trocknete sie und polsterte das Nest damit aus. Ich bohrte den Schnabel in morsche Äste und prägte mir ein, wo später die dicksten Würmer für die ersten Mahlzeiten des Kükens zu finden waren.
    Die Geräusche im Wald waren ganz anders als jene, die ich gewohnt war. Hier hörte man kein Eis knirschen, sondern die Bäume im Wind knarren. Ich sah auch keine anderen Vögel, nur Vierbeiner unten am Boden. Mir war das ganz recht so. Der Wald auf der Insel war ein seltsam friedlicher Ort. Ich fühlte mich hier vor Dämonen und anderen Feinden sicher, vor Aufruhr und Krieg. Das Bild von Sivs blutüberströmtem Flügel verfolgte mich in meinen Träumen. Doch ich hatte mir geschworen, erst wieder ins Feuer zu schauen, wenn das Küken auf der Welt war.
    Leider konnte ich der Versuchung dann doch nicht widerstehen. Ich machte aber wieder den Fehler, eine Vision durch Willenskraft hervorrufen zu wollen. Darum sah ich nicht das, wonach ich suchte. In den Flammen

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