Das Vermächtnis
gleichen Zeit Flugunterricht erteilte wie Svenka Siv. Woher ich das weiß, ist eine Geschichte für sich.
Ich war zum ersten Mal seit Tagen wieder allein. Kaum war Theo fort, fühlte ich mich so einsam wie noch nie in meinem Leben. Bis das Küken schlüpfte, würde es noch mehrere Tage dauern. Ich entschloss mich, ein Feuer zu entfachen. Ich hatte schon länger nicht mehr den Wunsch verspürt, in den Flammen zu lesen. Theos Experimente mit erzhaltigem Gestein waren so spannend gewesen, dass ich kaum noch an meine Gabe gedacht hatte. Aber vor allem fürchtete ich mich immer noch davor, dass mir die Flammen den Tod meiner geliebten Siv zeigen würden.
Doch die Einsamkeit brachte mich fast um. Ich brauchte dringend eine Ablenkung. Als ich Feuer gemacht hatte und in die Flammen schaute, sah ich etwas Großes, Weißes. Ich beugte mich so weit vor, dass ich beinahe mein Gesichtsgefieder in Brand steckte. Dann zogen bewegte Bilder an mir vorüber.
Ich sah einen Eisberg und eine Eisbärin. Die Eisbärin schwamm im Wasser auf dem Rücken und rief etwas zu einem dunklen Fleck am Himmel hoch. Als der Fleck in den Sinkflug ging, stockte mir der Atem. Es war eine Eule! Von ihrem Backbordflügel fehlte die Spitze. Es war Siv! Schwer verstümmelt, aber noch am Leben!
Ich war überwältigt vor Freude. Die Bilder verblassten. Wie so oft nach einer aufwühlenden Feuersitzung war ich völlig erschöpft. Ich flog in die Nisthöhle hoch. „Ich habe gute Neuigkeiten für dich, mein Kleiner!“, sprach ich auf das hell leuchtende Ei ein. „Deine liebe Mutter, die edelste aller Eulen – sie lebt!“ Das Leuchten schien kaum merklich zu flackern, als hätte sich das Küken im Ei geregt.
Zum Glück offenbarten mir die Flammen nicht, was anschließend geschah.
„Ich habe ihn schon gehört, bevor ich ihn gesehen habe“, berichtete mir Siv später. „Für eine Eule flog er ungewöhnlich geräuschvoll. Es war Fürst Arrin. Ich habe ihn sofort erkannt. Zwar hat er H’rath nicht persönlich umgebracht, aber er hat die Dämonen auf ihn gehetzt.“
Siv hatte bei ihren Flugübungen die warme Luft aus den sogenannten Spundlöchern ausgenutzt. Das waren Dampfsäulen, die besonders über den eisfreien Fjorden aufstiegen. Als sie Arrin gehört hatte, war sie sofort in den Sinkflug gegangen. Bestimmt hatte er sie ebenfalls gesehen. Verstecken konnte sie sich nicht mehr. Ob er seine Dämonen mitgebracht hatte? Würden sich die Bestien in die Nähe des Salzwassers wagen?
„Er ist da“, sagte sie zu Svenka, als sie am Rand des Eisbergs landete.
„Wer?“
„Arrin.“
„Der, von dem du mir erzählt hast? Der sich mit den Hägsdämonen verbündet hat?“
„Und der meinen Gemahl auf dem Gewissen hat. Ich glaube aber, er ist nicht allein hier, sondern in Begleitung von Pliek.“
„Wer ist nun wieder Pliek?“
„Ein ganz abscheulicher Vogel. Ihn eine Eule zu nennen, würde die Ehre meiner ganzen Art beschmutzen. Er hat sich eine Dämonin zur Gefährtin genommen.“ Siv erschauerte.
„Ich werde dich beschützen, komme, was wolle!“, sagte Svenka.
„Arrin will mich nicht töten.“
„Was will er dann?“
„Mein Ei.“
„Aber das ist doch gar nicht hier.“
„Das kann er nicht wissen. Und das ist unser Vorteil.“
Svenka machte ein verständnisloses Gesicht. Eulen dachten immer so kompliziert!
„Wir müssen Arrin so lange wie möglich in dem Glauben lassen, dass ich das Ei bei mir habe. Bis der richtige Augenblick gekommen ist.“
„Und welcher Augenblick ist das?“
„Der, in dem ich fliehen kann.“
„Fliehen? Du bist noch viel zu schwach!“
„Starke Flügel sind nicht alles. Aber Achtung! Er geht in den Landeanflug.“
Der stattliche Schnee-Eulerich landete auf dem Eisberg. „Seid mir gegrüßt, Herrin.“ Der Fürst verneigte sich. „Ich freue mich, dass Eure Genesung so gute Fortschritte macht.“
Ich kam nicht mehr dazu, ein weiteres Nachrichtenfeuer zu entfachen. Inzwischen rollte das Ei manchmal ein bisschen hin und her, ein untrügliches Zeichen, dass Sivs Sohn demnächst schlüpfen würde. Ich legte rasch noch einen Futtervorrat für den Kleinen und mich an. Frisch geschlüpfte Eulenkinder vertragen noch kein richtiges Fleisch. Leicht verdauliche Würmer sind ihre erste Mahlzeit. Zum Glück waren Larven und Maden in unserem Baum reichlich vorhanden.
So kurz vor dem Schlüpfen war es besonders wichtig, dass das Ei nicht auskühlte. Ich verließ die Nisthöhle nicht mehr. Am zweiten Tag fing ich
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