Das Vermaechtnis
Frau.
‚Wenn du gegangen bist,
dein Auge nicht mehr da ist,
das du um ihretwillen geschaffen hast,
damit du dich nicht selber siehst als Einziges,
was du geschaffen hast –
auch dann bleibst du in meinem Herzen,
und kein anderer ist, der dich kennt,
außer deinem Sohne Nefer-Chepru-Re Wa-en-Re [18] ,
den du dein Wesen und deine Macht erkennen lässt.
Die Welt entsteht auf deinem Wink,
wie du sie geschaffen hast.
Bist du aufgegangen, so lebt sie,
gehst du unter, so stirbt sie;
du bist die Lebenszeit selbst,
man lebt durch dich.
Die Augen ruhen auf deiner Schönheit,
bis du untergehst,
alle Arbeit wird niedergelegt,
wenn du untergehst im Westen.
Wenn du aufgehst,
lässt du alles Seiende wachsen für den König,
Eile ist in jedem Fuss.
Seit du die Welt gegründet hast,
erhebst du sie für deinen Sohn,
der aus deinem Leib hervorgegangen ist
den Herrn Beider Länder.
Nefer-Chepru-Re Wa-en-Re,
der von der Maat lebt
den Herrn beider Kronen,
Echnaton,
groß an Lebensjahren,
und die Große Königsgemahlin,
die er liebt,
die Herrin Beider Länder,
Nofretete,
die lebendig und verjüngt ist für immer und ewig.’ [19]
Dann sah er eine zunächst befremdend wirkende neue Malerei, die Menschen sahen echt aus, so, wie sie waren. So, wie Gott sie geschaffen hatte, so, wie Aton sie sah, so wurden sie dargestellt, ob dick oder dünn, alt oder jung, groß oder klein. Jeder sah so aus, wie er war! Auch Choi-Echnaton selbst mit seinen schmalen Schultern, seinem langen Kopf, seinen langen Fingern, seinem Bauch und den weiblichen runden Hüften und Beinen. Familienszenen wurden gemalt, das gab es bislang noch nie, natürlich stets mit der strahlenden Sonnenscheibe des Aton . Wo war die göttliche Erscheinung des Pharao? Für seinen Sohn war die Göttlichkeit die Natürlichkeit. Ohne Lügen. Auch nicht für das Volk.
Und er sah die Gemahlin von Choi-Echnaton , die schöne Jaskula-Nofretete , die ihm bereits sechs Töchter geschenkt hatte und nun langsam daran verzweifelte, denn sie dachte, das könne nur an Aton liegen.
Und er sah nichts als Chaos, Wut, Hass, Verzweiflung und diese kleine Insel der Liebe.
All dies sah er, hörte er. Er war wie betäubt von den Bildern, konnte es kaum fassen. Seine Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. Aber er konnte nicht umhin, sich zuzugestehen, dass dieser Sohn, Choi-Echnaton , den er so tief verabscheute, wegen seiner Andersartigkeit, dass dieser Sohn das weiterführen würde, was er selbst, Burgon-Amenhotep III, und was sein eigener Vater, der große Pharao Tanobakt-Thutmosis IV, bereits gefühlt hatten: Dass letztendlich alle Götter eins sind unter der Sonne.
Dass dieser Sohn wegen seiner Andersartigkeit und wohl auch wegen seiner jahrelangen Ausgrenzung, an der er selbst, des Choi-Echnatons Vater, der große Pharao, sicher die Hauptschuld trug, so viel Stärke gewinnen würde, gegen alle, gegen alles Volk, gegen alle Priester und gegen alle Beamten und hohes Volk, gegen allen Rat und gegen alle alten Götter zu stehen… Und leider dann auch unterzugehen.
Dass er gegen diese Macht, die gegen ihn war, den Willen, den Mut besaß, eine einzige Macht entgegenzusetzen, nämlich Aton , alle Götter in einem. Mit Aton waren sie die große Triade : Choi-Echnaton , Jaskula-Nofretete und Aton .
Choi-Echnaton – er war in seinem Geiste seinem Volk weit voraus, in seiner Zeit zu früh. Seine Erkenntnisse überforderten die Vorstellungskraft des Volkes. Das Volk war es gewohnt, Bilder anzubeten, Bildnisse, Skulpturen in Holz, Granit, Sandstein, mit Gold überzogen. Welches uns Göttern ja sehr schmeichelte… Doch all das war nicht nötig, so erkannte es Choi-Echnaton . Er sah uns als Licht, er sah uns als eins, als gebündelte Energie, als Sonne pur. Das Volk hatte nun nichts mehr, was es anbeten konnte, und zwar von heute auf morgen. Sie waren schockiert – und, was eine weitaus tragendere Rolle spielte, war, dass die Priester, die unzähligen Priester, die im Dienste aller Götter standen, nun mit einem Male arbeitslos werden sollten!
Es waren viele tausende. Viele tausende waren eine große Macht. Denn Choi-Echnatons Meinung nach konnte nur er und seine wunderschöne Frau Jaskula-Nofretete mit den göttlichen Strahlen Kontakt aufnehmen, konnte mit ihnen kommunizieren und Anweisungen annehmen. Nur das Herrscherpaar besaß diese Fähigkeit. Niemand anderes außer ihnen sollte sie besitzen. Die Priester waren ihrer Ämter enthoben, von einem auf den
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