Das Vermaechtnis
Enûma elîsch erzählt. Die Stadt ist in den letzten Jahren so schnell gewachsen und beherbergt viele tausend Menschen. Ich habe gehört, dass nun an so manchen Orten Erzähler, Sänger und Musikanten stehen, um den Schöpfungsmythos um Bel Marduk vorzutragen. Es ist schön, dass es auch für das Volk diese Möglichkeit gibt, denn nur den wenigsten ist es in ihrem Leben vergönnt, diese Geschichte direkt vom Vorlesepriester vor dem Palast zu hören.
Du brauchtest keine Tontafeln zum Vorlesen, wie die meisten. Du hast eine wundervolle und fesselnde Art, die über tausend Zeilen mit eigenen Worten frei vorzutragen. Ich glaube, es freuen sich nicht nur meine Söhne, wenn du das Enûma elîsch sprichst. Auch die meisten von uns können nicht an dem großen Neujahrsfest teilhaben oder schauen nur einmal kurz von weit hinten zu. Es fehlen uns sonst unsere Einnahmen. Es reichen schon die Tage, wo überhaupt kein Verkauf in der Stadt erlaubt ist. Ein Glück, dass wir hier hinter der Mauer verkaufen dürfen, dank der vielen Händler, die von weither angereist kommen. Allerdings würden die meisten von uns schon lieber das ganze Fest über mitfeiern.“
„Du hast Recht. Wir sind es nämlich, die wir das gute Leben des Großen Herrn Marduk mit unseren Abgaben bezahlen, Du weißt, wen ich insbesondere damit meine – egal, es ist mühselig darüber zu reden. Ich will auch vorsichtig sein, denn sonst tritt mich gleich wieder ein Kamel und dann wird es wohl nicht mehr so glimpflich ausgehen. Der Tritt eben war nur eine Warnung. Ich danke dir, gute Jaskula , deine Worte sind wie ein wohliger Verband. Ich hoffe, Elieanor-Adda-Guppi hat mich nicht vergessen, mein Bein braucht ihre Wunderkräuter.“ Jaskula steht kurz auf und schaut durch den Nachbarstand zu Elieanor-Adda-Guppis Stand hinüber.
„Ich sehe sie, wie sie etwas verrührt, sie ist bestimmt gleich fertig“, sagt sie und setzt sich wieder zu Tanobakt .
„Wie laufen deine Geschäfte, gute Jaskula ? Es ist hart für eine Frau, wenn der Mann so früh stirbt und die Söhne noch nicht das geschäftsfähige Alter sondern nur Springflöhe im Kopf haben.“
„Am Anfang war es schwierig, doch mein Mann hatte mir, nachdem er das Orakel befragen ließ, noch einiges erklären können, bevor er starb. Vor allem die Geschäfte um das Verleihen von Mine [23] und Sekel oder gewogenem Silber. Es dauerte etwas, bis ich die Rechenmöglichkeiten mit den Zinsen verstanden habe, doch er hat die ganzen Jahre alles in Listen eingetragen. An diesen kann ich mich jetzt gut orientieren.
Das Gesetz verbietet es zu betrügen, die Götter haben ein Auge auf Witwen sowieso. So komme ich schon wieder langsam zu meinem Geld. Bald habe ich mehr als genug. Es war schwierig zu Anfang, nicht hart für mich. Hart ist es für die, die nicht zahlen können. Daran muss man sich gewöhnen in diesem Geschäft, sonst muss man seine Finger davon lassen. Ich lasse mit mir reden, wenn ich sehe, es ist einer ehrlich, und ihn trifft keine Schuld. Das Gesetz ist sehr hart. Ich weiß, die Gesetzte sind zwar da, und das ist auch gut, doch diese wende ich nur zur Not an.“
In der Zwischenzeit ist Elieanor-Adda-Guppi eingetroffen und sitzt nun neben Tanobakt auf dem Boden. Sie zerreibt mit geschmeidigen Bewegungen ein paar frische grüne Kräuter, sodass ein Brei entsteht und gibt dies zu einem Pulver, das sie wohl eben gemahlen hatte. Elieanor-Adda-Guppi hatte die letzten Worte mitbekommen und will nun weiter von Jaskula wissen:
„Warum hatte er das Orakel befragt? War er krank oder hatte er eine Ahnung? Hatte er auch das Orakel prüfen lassen, denn so manches Mal erfüllt sich das Orakel allein deshalb, weil es Unheil verkündet und der Mensch dann voller Angst ist. Es sei denn, er hat Geld und kann sich mehrere Orakel leisten, so lange bis das gewünschte Ergebnis eintrifft!“ Sie lacht und ihre Zähne strahlen.
„ Elieanor-Adda-Guppi , dies aus deinem Munde! Gerade du bist doch auch kundig in Orakel und Beschwörungen! Und das mehr als jeder andere in der Stadt. Ich bin überrascht! Es ist doch so oft, dass sie sich bewahrheiten, dass Orakel eintreffen oder dass Beschwörungen helfen, Unheil oder Krankheit wieder abzuwenden. Es ist eine große Kunst! Dies zu können erfordert großes Wissen. Die, die die Formeln kennen, haben doch sehr oft Erfolg?“ Jaskula sieht Elieanor-Adda-Guppi irritiert an.
„Ja, leider auch im umgekehrten Fall, nämlich bei Schadenszauber. Nicht jeder hat eine harte Schale
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