Das Vermaechtnis
nicht ebenso ein wichtiger Höhepunkt, als dann die Götter ihre Ehrerbietung für Marduk zeigten?“
„Ja natürlich, das bedeutet ihre Treue und den Segen des neuen Jahres. Prächtig war natürlich der Zug aller Götter zum Euphrat und ihr Weg auf dem Schiff über Wasser und Land bis zum Haus des neuen Jahres. Speisen und Getränke wurden unter das Volk verteilt. Du kennst es ja auch zu gut: Es ist immer wieder ein atemberaubender Anblick, wenn sich der Festzug von dem Haus des Festes über die Prachtstraße bewegt, an den blauen Himmelsmauern vorbei, durch das Tor der Ischtar , hin nach Ätämänanki zu dem Tempelturm, und von dort nach Äsagila , zum Tempel des Marduk , wo Marduk jetzt noch einmal auf dem Hochsitz vor der Götterversammlung steht.
Heute legte unser König Nebukadnezar all die Ergebnisse seiner Beutezüge des letzten Jahres wie seit Jahren symbolisch als Opfergabe vor die Götter. Jeder weiß, dass die Schätze zum großen Teil in den Besitz der Priesterschaft gelangen werden. Mehr will ich dazu nichts sagen, nur, es wird von Jahr zu Jahr mehr.
Morgen kommt dann die Heilige Hochzeit , um den Göttern für das erfolgreiche letzte Jahr zu danken und ihren Segen für das neue Jahr zu erlangen. Übermorgen beginnt die Rückreise der Götter. Das Volk ist glücklich, sie sind ausgelassen, denn während des Festes sind sie, seit die Götter hier langsam eintrafen, frei von deren Strafe, denn deren ganze Aufmerksamkeit gilt dem Fest. Herren und Sklaven sind für kurze Zeit gleichgestellt, alle sind gleich geachtet. Kein Getreide wird in diesen Tagen von ihnen gemahlen. Deswegen wurde der Markt nach außerhalb der Mauer verlegt, denn diese Regel betrifft nur den Innenbereich.
Wenn die Götter übermorgen abreisen, wird sich alles wieder in kürzester Zeit zum Normalen hin wandeln.“
„So sehr ich mich freue, wenn das Fest erfolgreich verläuft, so sehr freue ich mich, wenn alles vorüber ist. Diese Lautstärke, alles ist nur laut! Allein diese Tubatöne, die bis hierher schallen, nein! Die Enge der Menschen nebeneinander, all die Soldaten, die mit ihren Schwertern das Volk zurückhalten, die Gerüche… Noch um ein Vielfaches schlimmer als hier auf dem Markt, nur dass dort keine Kamele herumtollen! Das ist wahrlich nichts für mein Gemüt!“ Tanobakt lächelt Elieanor-Adda-Guppi mitfühlend zu. Sie erwidert es dankbar.
Der Schreiber kommt auf die beiden zu. Er sitzt schon den ganzen Tag im Schatten an der Mauer, neben ihm ein großer Klumpen in feuchtem Tuch eingewickelter Ton, und beobachtet von dort das Marktgeschehen genauestens.
„Große Elieanor-Adda-Guppi , möge Sin dein Leben verlängern, kannst du mir kurz, solange der Ton noch feucht ist, erzählen, was passierte, denn ich will es meinen Tagesbeschreibungen zufügen. Wenn du dir für mich diese Umstände machen willst, wäre ich dir überaus dankbar.“
Sie muss unwillkürlich lächeln, als sie hört, mit wie viel Feingefühl in seiner Stimme er sie anspricht. Der Schreiber ist noch sehr jung. Sie hat ihn schon mehrmals am Morgen beobachtet. Er ist der typische Schreiber. Ernst, konzentriert, fleißig und überaus genau. Sehr freundlich und sehr leise.
„Gern“, antwortet Elieanor-Adda-Guppi .
Mit einem „Ich will wieder zu meinem Stand, um mich dort zu setzen und auszuruhen“, humpelt Tanobakt zu seinem Stand. Elieanor-Adda-Guppi nickt ihm zu mit einem dankbaren Lächeln.
Elieanor-Adda-Guppi erzählt rein sachlich, was vorgefallen ist. Der Schreiber fährt mit raschen und sicheren Zügen mit seinem Griffel über die frische Tontafel. Als sie zu Ende berichtet und er die letzten Zeichen eingedrückt hat, lädt Elieanor-Adda-Guppi den jungen Mann zu einem Glas Tee oder Wasser ein.
„Ich habe dich nur ein einziges Mal trinken sehen, als Aleyna dir einen Becher mit Wasser füllte, ansonsten den ganzen Tag noch nicht. Das ist eindeutig zu wenig.“ Sie klingt fast mütterlich und reicht ihm einen Becher Minztee. Er trinkt mit sichtlichem Genuss.
„Sag, hast du schon deine Ausbildung abgeschlossen? Ich sehe, du bist sehr geschickt und sehr schnell im Schreiben. Auch deine Wortwahl ist ausgewählt und treffend“, fragt sie ihn interessiert.
Seine Augen öffnen sich weit, denn offensichtlich ist die Hohepriesterin des Lesens und Schreibens erfahren, was für eine Frau nicht üblich war. Nach kurzem Überlegen fällt ihm ein, dass sie ja als höchste Priesterin eines Tempels natürlich der Schriftzeichen kundig sein
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