Das Vermaechtnis
Fußgelenken. Als Letztes musste sie auch ihr juwelenbesetztes Gewand ablegen. Ohne die sieben Kräfte des Landes, ohne die Speise des Lebens und ohne das Wasser des Lebens stand sie nun nackt und blickte in die Augen der sieben Richter-Gottheiten der Annunaki und von Ereschkigal, der Herrin der Unterwelt.
Ischtar war tot. Sofort verschwand von der Erde jede Pflanze. Alles vertrocknete, wuchs nicht mehr, alle Fruchtbarkeit hörte auf. Der Götterbote merkte dies und wollte Hilfe holen, allein Ea half, nicht der Mondgott Sin, nicht sein Vater Enlil und auch nicht ihr Gemahl Dumuzi.
‚Sie trägt selbst die Schuld’, sagten diese ungerührt. Ischtars Leichnam wurde an einen Pfosten aufgehängt und die sechzig Dämonen der Unterwelt machten sich über sie her.
Doch Ea, der Herr der Magie und der Weisheit, er nahm all dies wahr und entsann eine Rettung. Er rief den Lehm und den Wind herbei und formte aus ihnen zwei geflügelte Geister, Kurgarru, den Geist der Erde, und Kalaturra, den Geist des Wassers und brachte sie beide zum Leben mit dem Kraut des Lebens und dem Wasser des Lebens. Ihnen gab er den Auftrag, Ischtar zurückzuholen und gab ihnen besondere Kräfte, damit ihnen die Dämonen der Unterwelt und Ereschkigal nichts anhaben konnten. Sie gingen durch die sieben Tore hinab in das Reich der Toten, in das Land ohne Wiederkehr. Sie fanden die tote Königin. Blutend hing sie am Pfosten wie ein lederner Wassersack.
Wie geheißen, besprengten sie sie mit dem Kraut des Lebens sechzigmal und mit dem Wasser des Lebens sechzigmal und Ischtar wurde wieder lebendig.
Die Dämonen erwachten. Ereschkigal schrie, und während Ischtar mit Kurgarru und Kalaturru floh, kamen die Dämonen mit. Durch alle Tore liefen sie. An jedem Tor nahm Ischtar ihr Gewand, ihre Juwelen und ihre Symbole der Macht wieder zu sich, und so erreichten sie wieder das Licht der Erde. Doch die Dämonen wichen nicht von ihr, denn Ereschkigal forderte einen Ersatz für sie, da sie nun wieder zu den Lebenden zurückgekehrt war.
Ischtar wählte sorgfältig. Sie verschonte all jene, die um sie getrauert hatten, als sie im Reich der Toten weilte. Doch ihr Gemahl Dumuzi, der Gott der Vegetation, er saß fröhlich auf dem Thron und feierte unbekümmert. Wütend war sie, als sie ihn sah. So gab sie ihn als Ersatz zu ihrer Schwester Ereschkigal. Auf sein Flehen einigten sie sich, dass er ein halbes Jahr in das Reich der Toten hinabsteigen musste und ein halbes Jahr wieder auf der Erde verweilen durfte.
So, ihr Lieben, und was bedeutet das für uns?“
„Wir haben seitdem Herbst und Frühjahr!“, ruft ein älterer Junge.
„Genau, wenn Dumuzi in die Unterwelt hinabsteigt, wird es Herbst und wenn er wieder auf die Erde zurückkommt, dann beginnt der Frühling. Auch er ist somit ein Gott der Fruchtbarkeit.
Aber nun, meine liebe Zuhörerschar, nun wird es in euren Köpfen summen wie ein Schwarm Bienen, so viel habe ich euch heute erzählt. Nun schwirrt wieder dorthin, wo ihr hingehört. Ich danke euch von Herzen, dass ihr mir so lange eure geschätzte Aufmerksamkeit geschenkt habt – und – wie ich bereits sagte, ihr könnt mich in ruhigeren Zeiten gern an meinem Stand mit den Fellen besuchen. Mögen Marduk und alle Götter euer aller Leben verlängern.“
Er überkreuzt die Arme vor seiner Brust und verbeugt sich ein klein wenig vor seinen ebenso dankbaren Zuhörern, die sich ebenso verbeugen. Laut schnatternd ziehen sie los und verteilten sich wieder.
Ein paar Ältere erinnern sich jetzt wieder an den Zwischenfall während des Erzählens und blicken hinüber zu Elieanor-Adda-Guppi –sie verstehen auch ohne Worte, als sie sie versunken beim Räuchern sehen und den leeren Stand nebenan. Sie sehen sich an und gehen schweigend ihrer Wege.
Tanobakt , der die angebotene Hilfe von Kyr , ihn beim Gehen zu stützen, abwehrt, humpelt langsam in Richtung Elieanor-Adda-Guppi . Kurz vor ihrem Stand bedankt er sich bei Kyr für die hervorragende Begleitung. Sie versprechen einander, dass sie Ähnliches wiederholen wollten. Beiden hat es sehr gut getan, nur kommt jeder von ihnen wegen ihrer Hauptarbeit viel zu selten dazu, das, was ihnen besonders liegt, auch auszuüben. Kyr blickt kurz zu Elieanor-Adda-Guppi , die aufschaut, als sie ihre Stimmen vernimmt. Sie nicken einander zu und Kyr geht hinüber zu seinem Stand.
„Lass uns zusammen eine Decke über die Becher und Krüge legen. Ihr Mann wird sicher erst zum späten Abend kommen und alles abholen, wenn
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